Nuvayla und das Dorf im Land der Drachen

© Main Donau Verlag

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"Noch war Nuvay ahnungslos, wie sehr eine Person das Leben einer anderen verändern konnte, als sie sich begierig weiter vorbeugte, um eine bessere Sicht auf das Spektakel zu erhaschen, dass sich vor ihr in schwindelerregender Höhe abspielte. Es war Nacht und sie saß hoch auf dem Gipfel ihres Berges. Die Sterne funkelten weit über ihr mit dem bunten Treiben der Wesen vor ihr um die Wette. Das bunte Glitzern der Schuppen im Mondlicht gewann, denn Nuvays gespannter Blick war auf sie gerichtet. In den kühlen Nachtwind mischte sich ein leichter Geruch von Schwefel und Rauch hinein, der Nuvay sanft durch die Haare strich. Ebenso sanft hielten sich diese mächtigen Wesen mit ihren riesigen Flügeln in der Luft und schmiegten sich dabei elegant aneinander, mal stärker und mal schwächer, suchend nach dem richtigen Partner. Lautes Grunzen und Raunen übertönte jedes normale nächtliche Geräusch. Den Ton gaben eindeutig diese edlen Wesen an. Die sonst so eintönigen und ereignislosen Nächte waren seit einiger Zeit angefüllt mit dem Treiben der Drachen. Es war Brunft. Alljährlich versammelten sie sich in der Nähe des Gebirges, um einen passenden Partner zu finden. Sie schwangen sich in die Lüfte und tanzten im Mondschein, um sich die Gunst der Weibchen zu sichern. Die Aufmerksamkeit der Drachen galt jetzt allein ihresgleichen. Das hatte Nuvay in all den Jahren feststellen können, da sie das Geschehen beobachtete, und so stand sie ohne die geringste Sorge, angegriffen werden zu können, auf dem Gipfel des Berges und befand sich fast schon unter ihnen. Wie hypnotisiert beobachtete sie seit Beginn der Nacht die Drachen und hatte, überwältigt von der Schönheit des Schauspiels, wieder einmal die Zeit vergessen. Sie würde sicherlich bald vermisst werden. Wie konnte sie aber an so etwas Belangloses denken, wenn ihr Herz mit jedem Flügelschlag der Drachen vor ihr freudig aufhüpfte? Wenn sie entzückt auflachte, sobald einer der Drachen wieder ein besonders schwieriges Kunststück in der Luft vollbracht hatte? Wenn sie von der strahlenden Farbenpracht, die sich ihr darbot, gebannt war und eine tiefe Leidenschaft für die Wesen vor und über ihr verspürte? Manchmal stellte sie sich vor, dass sie eine von ihnen wäre und sich eines dieser starken und mächtigen Männchen nur für sie in die Lüfte schwingen und die ganze Nacht lang nur für sie fliegen würde.
Nuvay lehnte sich lächelnd an einen Felsen und seufzte zufrieden. Sie war einfach glücklich in diesem Moment und das genoss sie. In solchen Nächten vergaß sie alle Sorgen und Pflichten. Sie war nicht allzu weit gelaufen, ihr Dorf lag nur einige hundert Meter unter ihr. Es befand sich in einem Berg oder genauer unter einem Berg. Man lebte nicht wirklich in diesem Dorf, es war eher ein Sichverstecken. Denn auf der Erdoberfläche durfte man sich nicht lange aufhalten, weil es Drachenterritorium war. In ihrer Welt gehörten Menschen unter die Erde. Die Drachen mochten es nicht besonders, wenn sich Menschen in ihrem Revier herumtrieben, was Nuvay allerdings nicht davon abhielt, ihre Welt zu erkunden. Nuvay wusste nicht, wie es in anderen Ländern auf ihrer Welt war, doch hier herrschte dieses Gesetz. Es gab bloß einen Ort, an dem die Drachen die Menschen auf der Erdoberfläche duldeten. Es war die Hauptstadt des Landes. Alle anderen Dörfer und Städte waren unter der Erde, genauso wie Nuvays Dorf, das ziemlich klein war und auch ziemlich abseits der anderen Städte lag. Es war ein richtiges Kaff, abgetrennt vom Leben der übrigen Unterstädte. Die Dorfältesten hatten Nuvay einmal erzählt, dass ihre Siedlung einst eine kleine Zwergenstadt gewesen war. Die Zwerge waren aber auf ihrer Suche nach Bodenschätzen erfolglos geblieben und hatten die Gegend verlassen. Schon längst waren die Zwerge ausgestorben, und es blieben bloß noch einige Erinnerungen an sie. In dem Dorf hatten sich dann in den letzten Jahrhunderten Menschen angesiedelt. Zurzeit lebten aber nicht mehr als hundert dort. Nuvay mochte es nicht immer, hier zu leben. Man konnte fast nichts verheimlichen. Denn was immer man tat, irgendwer bekam es mit und dann sprach es sich schnell herum.
Dennoch hatte sich Nuvay in dieser Nacht aus ihrem Dorf schleichen können. Sie war so hoch sie konnte geklettert und beobachtete nun von dort aus die Drachen. Sie genoss den kurzen Moment der Freiheit. Verträumt sah sie zu den Drachen hinüber und verlor sich mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen in ihren Gedanken. Wie könnte man ihr diese Stunden übel nehmen? Wer könnte denn der Verlockung widerstehen, diese mächtigen und majestätischen Wesen aus solcher Nähe zu beobachten? Ein starker Windstoß, der sie fester an den Felsen hinter ihr drückte und Staub und Steine aufwirbelte, riss Nuvay wieder zurück in die Realität. Ein roter Drache, nur einige Meter von ihr entfernt, schoss in den Himmel empor, dabei dicht gefolgt von einem grünen Drachenweibchen. Nuvays schwarze Haare wirbelten im Wind auf. Sie musste sich die Augen zuhalten, um sie vor dem Staub zu schützen. Als der Wirbel sich gelegt hatte, öffnete Nuvay vorsichtig ihre Augen. Sie sah den roten Drachen, wie er mit starken, gleichmäßigen Flügelschlägen einige Meter über ihrem Kopf schwebte. Die grüne Drachendame umflog ihn, ihrem kräftigen Bau zum Trotz tat sie es elegant und geschmeidig. Nuvay sah mit pochendem Herzen, leuchtenden Augen und einem Lächeln im Gesicht zu den beiden hinauf. Ihre Schuppen glitzerten im Mondschein und verzahnten sich miteinander. Ein Paar hat sich soeben gefunden, dachte Nuvay. Jedoch verschwand ihr Grinsen, als sie den roten Drachen wiedererkannte, und ein nervöses Kribbeln stellte sich in ihrer Magengegend ein. Sie drückte sich stärker an das feste Gestein hinter ihr und ihre Rippen schmerzten. Die Erinnerungen an das Ereignis vor einem Jahr flammten wieder auf. Ja, es war eindeutig der Drache, der ihr damals ein paar Rippen gebrochen hatte. Bereut hatte Nuvay den Vorfall nie, denn er hatte ihr zu einer wichtigen Erkenntnis verholfen. Die Schmerzen waren es wert gewesen.
Auch damals hatte sie sich aus dem Dorf geschlichen. Obwohl es keine Brunftzeit gewesen war, hatten sich einige Drachen in der Nähe ihres Dorfes verloren. Neugierig und sorglos wie sie war, hatte sie sich diesen Drachen zu stark genähert und war dabei von ihnen entdeckt worden. Ebenjener rote Drache hatte sich daraufhin an ihre Fersen geheftet. Sie war wie noch nie zuvor um ihr Leben gerannt, wiewohl ihre Lage hoffnungslos war. Sie konnte sich noch genau an diesen schrecklichen Moment erinnern: Als sie den Höhleneingang schon sehen konnte, wurde sie plötzlich von roten Krallen gepackt und hoch in die Luft getragen. Auch wenn sie schreckliche Angst gehabt hatte, musste sie sich eingestehen, dass dieser Moment faszinierend war. Im nächsten Augenblick jedoch schoss ihr der steinige Grund des Berges entgegen. Ein stumpfer Aufprall. Ein Knacksen. Sie hatte sich, als sie auf dem harten Gesteinsboden aufschlug, einige Rippen und ihr Schulterblatt gebrochen. Vor Schmerzen auf dem Boden gekrümmt, hatte sie erst gar nicht bemerkt, dass sich ein anderer, weißsilberner Drache auf den Roten gestürzt hatte. Erst als sie versuchte, sich aufzurichten, erkannte sie, dass die beiden Drachen kämpften. Ihr stockte der Atem. Dann wurde der Boden unter ihren Füßen heftig erschüttert, so dass ihre Rippen fürchterlich schmerzten. Der rote Drache war genau vor ihr auf den Boden gestürzt. Nuvay versuchte vergeblich, auf die Beine zu kommen und davonzulaufen. Vielleicht hätte sie es jetzt, während die beiden miteinander beschäftigt gewesen waren, bis zum Eingang schaffen können. Doch ein markerschütternder Schrei hatte sie schockiert innehalten lassen. Sie musste ihre Ohren zuhalten. Als der Schrei abgeklungen war und sie sich umdrehte, sah sie gerade noch, wie aus dem Maul des roten Drachen Feuer geschossen kam. Da entfuhr auch ihr ein Schrei. Das Feuer war unmittelbar auf sie gerichtet.
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Nuvay gesehen hatte, wie ein Feuerstrahl Menschen umschlossen hatte. Das war bei ihren Eltern gewesen. Nur noch ein Aschehaufen war von ihnen übriggeblieben. Nun war sie in derselben Situation. Instinktiv hob sie die Arme hoch, beugte sich nach vorn und kauerte sich auf den Boden, als die Hitze sich um sie schloss.
Ein weiterer Schrei erfüllte die Gegend. Wieder dieselbe Drachenstimme. War das der weiße? In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie immer noch denken konnte. Hätte sie nicht schon längst tot sein müssen? Konnte man als Aschehaufen noch denken? Hatte es sich der Drache anders überlegt? Sie öffnete die Augen und erschrak. Sie war umhüllt von Flammen. Von den Kleidern an ihrem Körper war keine Spur mehr. Alles war weggebrannt, aber ihr Körper war unversehrt. Selbst ihre Haare waren verschont worden. Sie schwebten um sie herum, als würden sie auf Wasser schwimmen.
Wenn sie so zurückdachte, erschien es ihr fast berauschend, dieses Gefühl in den Flammen. Das Feuer war erloschen und sie hatte in zwei feuerrote Augen gesehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Augenkontakt mit einem Drachen gehabt. Sie hatte seine Verwirrung gesehen und konnte nicht umhin, ein wenig zu grinsen. Dann wurde der Drache plötzlich nach hinten weggezogen und gegen einen großen Felsen geschleudert. Der weiße Drache hatte ihn am Schwanz gepackt und weggeschleudert. Nuvay hockte immer noch auf dem Boden und versuchte zu realisieren, warum sie kein Häufchen Asche geworden war. Der weiße Drache hatte sie bemerkt und seine dunkelblauen, funkelnden Augen hatten sich ihren tiefschwarzen zugewandt. In den seinen war jedoch keine Überraschung oder Verwirrung zu sehen. Es war etwas ganz anderes. Etwas, das sie nicht hatte deuten können und worüber sie auch nicht lange nachsann, denn sie war in dieses tiefe Blau vor ihr hineingesogen worden. Sie hatte alles um sich herum vergessen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Der blaue Blick des weißen Drachen. Die Zeit stand still. Sein Blick war ernst und leidvoll.
In der Zwischenzeit war der rote Drache wieder zu sich gekommen und hatte sich von hinten auf den weißen gestürzt. Ein lauter Aufschrei riss sie aus der Trance. Zwischen den beiden Drachen tobte erneut der Kampf. Sie nutzte die Gelegenheit und rannte, so schnell die Beine sie trugen, zurück in ihr Dorf. Unterwegs schwor sie sich immer wieder, sich nie wieder heimlich davonzuschleichen. Kaum waren jedoch die ersten Schmerzen abgeklungen, war ihr Schwur vergessen. Ihr war endgültig bewusst geworden, dass ihr Feuer nichts anhaben konnte. Nicht einmal das Feuer der Drachen ...
In diesem Moment wurde Nuvay aus ihren Gedanken gerissen. Etwas Seltsames spielte sich bei den Drachen ab. Sie wurden unruhiger und blitzschnell schwangen sich alle in die Luft. Auch die Drachen, die sich zuvor ein wenig auf dem Boden ausgeruht hatten, flogen nun auf. Es folgten eigenartige Geräusche, die Nuvay noch nie von ihnen gehört hatte. Unruhig sah sie sich um. Was war los? Lag es an ihr? Das konnte nicht sein, denn keiner be- achtete sie. Und dann, von einer Sekunde auf die nächste, schien die Zeit stehen zu bleiben. Nuvay hielt den Atem an. Nur hundert Meter vor ihr erschien der silberweiße Drache. Es war der- selbe wie vor einem Jahr. Wie aus dem Nichts stand er plötzlich unter den anderen. Nuvay stockte der Atem. Die Mondstrahlen ließen das Silber und Weiß der Schuppen aufschimmern und er sah am dunklen Nachthimmel zwischen all den bunten Drachen aus wie ein leuchtender Stern. Er war wunderschön. Sie beugte sich unwillkürlich vor, um ihn besser sehen zu können. Doch trotz der überwältigenden Schönheit, den sein Auftritt im Schein des Vollmonds hatte, sah der Drache erschöpft aus. Er schwang sich nur mit großer Anstrengung durch die Lüfte und suchte sich einen Platz zum Ausruhen. Um den gesamten Körper des Drachen hatte sich eine Rauchwolke gebildet. Es schien, als käme sie aus ihm.
Nuvay wurde unruhig und besorgt. Er musste innerlich brennen, dachte sie sich. Ob er krank war? Am Boden angekommen, lief, ja kroch er auf allen vieren. Seltsamerweise bewegte er sich von den anderen Drachen weg. Diese waren anscheinend eben- falls irritiert, denn die meisten entfernten sich von ihm. Da trat ein violettfarbener Drache aus der Menge heraus. Es war eindeutig ein Weibchen. Sein Blick war hart und glühte und richtete sich auf den weißen Drachen. Das Weibchen öffnete seine Schnauze und sandte einen schrecklichen Schrei in die Nacht hinaus, der selbst die Sterne im Himmel erzittern ließ. Der weiße Drache aber schenkte dem schreienden Ungetüm in der Luft keinerlei Beachtung. Es schien, als hätte er genug damit zu tun, sich nicht in Rauch aufzulösen. Das gefiel der violetten Drachendame noch weniger. Dann ging alles so schnell, dass Nuvay dem Geschehen kaum folgen konnte. Der weiße Drachen erhob sich blitzartig in die Luft, und das violette Weibchen stürzte ihm hinterher. Als er vor sich Nuvay entdeckte, riss er erschrocken die erschöpften Augen auf und eine starke Rauchwolke entwich seinen Nüstern. Nuvay war wie versteinert. Er hatte sie entdeckt. Ihr Herz raste und sie wusste, dass etwas Schreckliches passieren würde. Aber entgegen ihren Erwartungen wechselte der weiße Drache ruckartig seine Richtung und flog steil nach oben. Nicht nur Nuvay erschrak bei diesem Manöver, auch das violette Weibchen war verwirrt. Ihr flammender Blick richtete sich auf Nuvay, die förmlich spürte, wie sich die Hitze um ihren Körper schloss. Die violetten Augen stachen tief in sie hinein und Nuvay fing an, am ganzen Körper zu zittern. Dann schrie das Weibchen, kreischte, beschleunigte und flog direkt auf Nuvay zu. Ihr Herz blieb vor Entsetzen fast stehen. Bewegungslos sah sie dem Angriff entgegen. Da kam ihr der weiße Drache zur Hilfe und errichtete eine schützende Wand vor ihr, indem er aus seinem Maul einen Feuerstrahl spie. Das Drachenweibchen hielt in der Luft an, es wollte sich augenscheinlich nicht in die Flammen werfen. Die Wärme drang tief in Nuvay ein und befreite sie aus ihrer Erstarrung. Was tat sie hier eigentlich? Auf ihren Tod warten? Sie gab sich einen kurzen Ruck und lief los. Das Pochen ihres Herzens beflügelte ihre Füße und sie spürte, wie sie das Adrenalin in den Adern wie das Benzin einen Motor antrieb. Es war an der Zeit zu überleben!
Sie sprang die Felsen wie eine Bergziege hinunter und schaute dabei kurz nach oben. Der weiße Drache stürzte sich auf das violette Weibchen und die beiden gerieten in einen Kampf. Was war nur los? Hatte der weiße Drache sie gerade etwa beschützt? Wenn ja, hatte er sie bei ihrer ersten Begegnung auch nur schützen wollen? Aber warum tat er das? In diesem Moment trat sie falsch auf, rutschte an einer Steinkante aus und rollte kopfüber nach unten. Nach zahlreichen Überschlägen kam sie mit Schürfwunden und einer Menge Staub in Mund und Nase zum Stehen. Hustend und spuckend richtete sie sich wieder auf und massierte die Stellen, die ihr weh taten. Sie blickte wieder nach oben. Es war eindeutig. Der weiße Drache versuchte mit aller Kraft zu verhindern, dass das Weibchen zu ihr gelangte. Aber warum? Und vor allem: Wie lange würde er es in seinem geschwächten Zustand noch schaffen, dieses violette Monstrum von ihr fernzuhalten?
Nuvay musste weiter, wenn sie die Nacht überleben wollte. Sie spuckte den letzten Geschmack von Staub aus ihrem Mund und rannte wieder los. Aber sie kam nicht weit, denn die kämpfenden Drachen knallten mit voller Wucht auf die Felswand vor ihr. Der Aufprall war so gewaltig, dass der Boden unter ihren Füßen zitterte und Nuvay das Gleichgewicht verlor. Sie fiel nach hinten und in ihrem Kopf explodierte es. Sie schrie. Ein sehr spitzer Stein hatte sich in ihren Rücken gebohrt. Ihr Atem rasselte vor Angst und Aufregung. Ihr pochendes Herz mahnte sie weiterzurennen und den Schmerz zu ignorieren. Sie sah auf den sternenbehangenen Himmel. Der Wind blies kühl über ihren Körper.
Sie holte tief Luft, um sich mit einem starken Ruck aufzurichten, als sie plötzlich zwei violette Augen wahrnahm, die sie hasserfüllt anstarrten. Sie fühlte einen kalten Schreckensschauer über ihren Körper laufen. All ihre Schmerzen waren in diesem einen kurzen Moment verschwunden. Sie erstarrte und wagte nicht zu atmen. Der violette Drache hob die Flügel an und stieß sich mit einem heftigen Ruck in Nuvays Richtung hinab. Im nächsten Augenblick wurde Nuvay von zwei Vorderkrallen gepackt und sie schossen empor in die Luft. Nuvay wollte schreien, aber die Krallen schnürten ihr die Brust zu. Wie viel Schmerz musste sie denn noch ertragen? Angst kam in ihr hoch, Tränen schossen in ihre Augen. Sie würde so etwas nie wieder tun! Wenn sie diese Nacht überleben sollte, würde sie einen Blutschwur leisten, nie wieder ihr sicheres Dorf zu verlassen und nie, nie wieder auch nur einen Fuß hinauszusetzen!
Weiter konnte sie nicht denken, denn in diesem Moment legte das Weibchen einen waghalsigen Sturzflug hin. Nuvays Magen drehte sich ebenso wie ihre Gedanken. Sie sah nur noch, wie der Himmel um sie herumschwirrte. Die Sterne verschwammen in- einander und oben und unten wurden eins. Mit jeder Sekunde Atemnot verschwammen ihre Gedanken mehr und allein der kalte Nachtwind rüttelte sie mit seinen Ohrfeigen wieder wach. Die Hoffnung, dass sie all das heil überstehe, schwand im Minutentakt. Plötzlich wurde das violette Weibchen von einem anderen Drachen gerammt. Es war der weiße. Der Griff des Weibchens lockerte sich etwas, und Nuvay nutzte diesen Moment, um tief durchzuatmen. Ihre Lungen füllten sich mit der kalten Nachtluft und ihr Verstand wurde klarer. Sie musste hier raus! Das Weibchen brüllte. Nuvay wollte sich die Ohren zuhalten, doch sie bekam ihre Hände nicht frei. Der Schrei durchdrang sie und sie musste ebenfalls vor Schmerz aufschreien. Wieder stiegen Tränen in ihr hoch. Der weiße Drache flog immer noch unter ihnen. Er legte seine Flügel schräg an und wurde schneller. Dann drehte er sich plötzlich, rammte sie seitlich und sie krachten gegen einen Berg.
Der Aufprall war hart und schüttelte Nuvays Körper durch. Schwärze und das Gefühl einer großen Leere legten sich um sie. Sie kämpfte dagegen an, und schließlich wurde ihr klar, was passiert war. Kein Drache war mehr zu sehen. Eine starke Freude machte sich in ihr breit, dass sie ihren Klauen entronnen war. Sie raffte sich auf und lief, ein wenig schwankend zunächst, los. Schon bald aber rannte sie mit ihrem Herzschlag um die Wette. Als sie einen Höhleneingang nicht weit von sich ausmachte, atmete sie erleichtert durch. Das war die Rettung, dachte sie.
Sie lief schnurstracks in die Höhle, die ihren schützenden Schatten um sie warf. Das Gefühl der Sicherheit währte indes nicht lange, denn der weiße und der violette Drache krachten kurz nach ihr in die Höhle, wobei sie den engen Eingang hinter sich in Schutt und Asche legten. Der weiße Drache hatte sich in die Kehle des Drachenweibchens verbissen und dieses versuchte sich vom weißen Drachen loszureißen, wobei es seine funkelnden Augen stets auf Nuvay gerichtet hatte. Dieses Weib ist wirklich verrückt, dachte Nuvay. Ihr Fuß verhedderte sich in ihrer Hose und sie stolperte einen Meter weiter auf den Boden. Sie fluchte leise, erhob sich und rannte diesmal bedachter los.
Die Höhle hatte zwar einen schmalen Eingang, der überdies zugeschüttet war, aber ihre Decke war sehr hoch und sie war groß. Nuvay lief also weiter in sie hinein. Überall waren kleine Lichter in den Steinen, die das Innere der Höhle in hellblaues Licht tauchten. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre sie wahrscheinlich begeistert gewesen, wenn sie diese schöne Höhle entdeckt hätte, doch jetzt wollte sie nur ihre Haut retten. Sie hörte Gebrüll hinter sich und ein weiteres Beben erschütterte die Höhle. Kleine Steine fielen von der Decke, denen Nuvay auszuweichen versuchte. Ihre Füße brannten vor Schmerz und Erschöpfung. Ihr Atem rasselte und ihre Lungen schrien auf. Sie war voll und ganz erschöpft, doch das Getöse hinter ihr ließ sie weiter und immer weiter in die Höhle hineinrennen. Wie aus dem Nichts erschien vor ihr ein großer See und zwang sie, stehen zu bleiben.
Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Was sollte sie nun machen? Sie lief noch einige Schritte auf das Wasser zu. Verdammt! Die Höhle war eine Sackgasse. Hinter ihr wurde das Gebrüll der wütenden Drachendame lauter und Nuvay wusste, dass sie sich bis zu ihr durchkämpfen würde. Mit pochendem Herzen drehte sie sich langsam um und sah mit Entsetzen, dass das violette Weibchen wie eine Furie auf sie zusprintete. Sie wurde wieder von Panik gepackt. Kalter Angstschweiß legte sich auf ihren Körper, während sich im Raum Wärme ausbreitete. Warum war dieser Drache so hartnäckig? Und was sollte sie jetzt machen? Da kam ihr erneut der weiße Drache zur Hilfe und rammte das violette Weibchen zum wiederholten Male von der Seite und versperrte ihr anschließend den Weg zu Nuvay, in dem er sich bedrohlich vor ihm aufbaute.
Nuvay atmete für einen kurzen Moment erleichtert aus. Als sich das Weibchen auf den weißen Drachen stürzte, machte sie instinktiv einen Schritt nach hinten und ein kalter Schock durchzuckte sie. Das eisige Wasser des Sees hatte ihren Fuß umschlossen. Sie zog ihn sofort wieder heraus. Das Weibchen stürzte sich mit lautem Geschrei auf den weißen Drachen und warf ihn zu Boden. Dann wollte sie wieder auf Nuvay zulaufen, doch der weiße Drache biss ihr in die Wade und es ertönte wieder ein lauter Schrei. Eine Salve von Rauch und Schwefel strich zu Nuvay hinüber. Das Weibchen stand nur wenige Meter vor ihr entfernt und wurde vom weißen Drachen gehalten. Der Blick des Drachenweibchens war fest auf Nuvay gerichtet. Ein weiterer Schauer fuhr ihr über den Rücken. Die kalte Angst ließ ihre Knie erzittern. Würde das gar nicht mehr aufhören? Das Weibchen öffnete seine Schnauze und sie wurde von messerscharfen Zähnen angeblitzt. Nuvay seufzte schwer, sie wusste, was jetzt kommen würde. Genau in dem Moment, als sie etwas Rotes im Rachen des Weibchens ausmachen konnte, schloss sie schweren Herzens ihre Augen und ließ sich rückwärts fallen. Sie holte dabei tief Luft und wartete auf den schmerzhaften Moment. Die Zeit schien wieder stehen zu bleiben. Dann durchstachen unzählige eisige Messer ihren Körper und das Wasser des Sees umschloss sie. Sie musste an sich halten, um nicht auf der Stelle wieder hinauszuspringen. Aber oben hatte sich eine rote Feuerschicht gebildet. Und sie wollte um keinen Preis wieder nackt durch die Gegend laufen. Das letzte Mal, als sie sich vor dem Dorfeingang hingekauert hatte, war sie von Simôn entdeckt worden. Simôn, den sie seit ihrer Kindheit wie einen Helden verehrte, der sie immer beschützte und ihr zur Seite stand wie kein anderer, hatte sie so aufgefunden. Er hatte sofort seine Kleider ausgezogen und sie ihr gegeben. So hatte Nuvay das sichere Dorf betreten. Er war ihr mit großem Abstand in seiner Unterwäsche gefolgt. Eine Woche lang hatten sie einander nicht in die Augen sehen können. Es war furchtbar peinlich gewesen. Hinzu kam, dass man ihr im Dorf nicht geglaubt hatte. Die Menschen hatten gedacht, dass Nuvay bloß wieder irgendeinen Unfug da draußen getrieben hatte, und von ihrer neu entdeckten Eigenschaft wollte niemand etwas wissen. Es war frustrierend und beschämend zugleich gewesen. Da hatte man so eine weltverändernde Entdeckung gemacht und war mit dem Leben davongekommen und keiner hatte etwas davon wissen wollen. Eine traurige Wärme, die einzige Wärme, die sie gerade empfand, legte sich um ihre eisige Brust.
Der Feuerstrahl des violetten Drachen hielt nicht lange an. Als er erlosch, peitschte Nuvay sofort mit ihrem Kopf aus dem eisigen Wasser heraus und schnappte tief nach Luft. Zuerst konnte sie nichts erkennen, da überall das Wasser dampfte. Sie wartete gespannt darauf, dass ihre Sicht klarer wurde, und erkannte dann, wie der weiße Drache dem violetten Drachen gerade den Kopf wegdrückte. Sie traute sich nicht aus dem Wasser, obwohl sie zitterte. Die Kälte kroch ihr bis tief in ihre Knochen. Dann biss der weiße Drache dem Drachenweibchen in den Hals und ein weiterer Schrei hallte von den Höhlenwänden. Nuvay musste sich wieder die Ohren zuhalten und schloss dabei auch die Augen. Warum waren diese Drachen so laut?
Wie es passiert war, wusste sie nicht, doch als sie wieder auf- blickte, stand der weiße zwischen ihr und dem violetten und bäumte sich gefährlich auf. Er gab seltsame Grunzlaute von sich. Dann, als das Drachenweibchen wieder angreifen wollte, brüllte er so laut und so ohrenbetäubend, dass Nuvay ebenfalls aufschrie. Die Kälte wich für einige Momente aus ihrem Körper. Angst und Verzweiflung machten sich in ihr breit. Die Haare auf ihrem gesamten Körper stellten sich auf. Das Brüllen des weißen Drachen ging ihr durch Mark und Bein. Mit was hatte sie sich da angelegt?
Aber auch das Weibchen schien eingeschüchtert, denn es wich langsam zurück. Ein weiteres drohendes Grunzen, und die Violette drehte sich um und brach wutentbrannt mit dem Kopf voran durch den eingestürzten Eingang aus der Höhle hinaus in den Nachthimmel. Der Eingang war wieder frei. In der Höhle wurde es still. Nur das Klappern von Nuvays Zähnen war zu hören. "


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Beschreibung des Autors zu "Nuvayla und das Dorf im Land der Drachen"

Das Mädchen Nuvayla lebt seit dem mysteriösen Tod seiner Eltern bei der Tante in einem Dorf tief unter der Erde, das vor langer Zeit von den inzwischen ausgestorbenen Zwergen angelegt wurde. Obwohl Nuvayla ihr Leben dort verbracht hat, fühlt sie sich fehl am Platz. Magisch angezo- gen von den mächtigen Drachen, die auf der Erde ihre wilde Herrschaft ausgebreitet haben, begibt sie sich immer wieder an die Oberfläche, um unter Lebensgefahr die gigantischen Geschöpfe zu beobachten.
Eines Tages taucht ein geheimnisvolles Wesen im Dorf auf, das ihr Leben völlig auf den Kopf stellt und Licht auf ihre dunkle Vergangenheit wirft. Ihr Schicksal beginnt sich zu fügen ...




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