Lisa

Sie schob ihre Beine über einander und dann wieder zurück. Man hatte ihr verboten das zu tun. Den ganzen Tag hatte man ihr eingedrillt, wie sie sich zu verhalten hatte. Aus demselben Grund war sie in unauffälliges Gewand gekleidet. Sie sollte wie ein simples Wesen wirken, mehr wie ein Kind, völlig harmlos. Aber sie war nicht simpel. Die Interviewerin lächelte professionell. Sie lächelte schüchtern zurück. Das musste sie nicht einmal spielen. In sekundenschnelle beobachtete sie den ganzen Raum. Sie hatte das Gesicht jedes einzelnen in ihrem übergroßen Speicher in ihrem Kopf aufgenommen. Es war unangenehm mit so vielen Menschen auf so engen Raum zusammen zu sein. Sie war das nicht gewöhnt. Die Interviewerin stellte sie den Zuschauern vor. All der Blödsinn über ihre Aufgabe, das Trainingscamp und all das. „Kannst du uns ein wenig den Tagesablauf im Camp Medus schildern?“ Sie ließ kurz ihren Blick sinken, übte sich in Bescheidenheit. Auch das hatte man ihr eingetrichtert. „Es ist wie ein normaler Arbeitstag!“ Zumindest hatte man das ihnen gesagt. Sie hatte keine Ahnung, wie ein normaler Arbeitstag aussah. Sie hatte überhaupt keine Ahnung vom Leben von gewöhnlichen Menschen. „Wir stehen gemeinsam um acht auf. Dann kommt das Frühtraining. Die Fitness unserer Körper ist besonders wichtig. Wir achten auf gesunde Ernährung und werden regelmäßig untersucht.“ Das klang so sauber und klinisch. Niemand sah ihren zerstochenen Arm, von dem vielen Blut, das man ihr abnahm. Ein Teil diente zur Untersuchungen, mit einem anderen Teil betrieb man Forschung. Wie viel für was draufging, wusste sie nicht, interessierte sie auch nicht gesteigert. Laborratten interessierte so etwas nicht. „Um elf Uhr nehmen wir unsere erste Mahlzeit ein. Disziplin und ein geregelter Zeitablauf ist wichtig. Dann kommt das mentale Training!“ Nach jedem Satz flickerte ihr Blick durch die Menge. Das ging so schnell, dass es niemand mitbekam. Aber ihr Hirn arbeitete, wie ein Hochleistungsrechner. Sie spuckte die Worte aus. Hauptsache das alles ging schnell vorbei. „Das mentale Training sind oft Spiele. Das macht Spaß!“ Jetzt lächelte sie. Chris liebte es. Es war wie seine Games, auf die er so heiß war. Wenn sie sich darüber freute, dann würde sie mehr wie ein Kind wirken. Die Interviewpartnerin lächelte zurück. „Am Abend haben wir in der Regel frei. So wie bei mir heute!“ „Dann opferst du heute deinen freien Abend.“ Sie lächelte krampfhaft. Dann machte sie eine einladende Geste zu den anderen. „So oft hat man nicht die Möglichkeit ins Fernsehen zu kommen. Da opfert man doch gerne einen freien Abend.“

„Und wie bist du in das Camp Medus gekommen?“ Sie unterdrückte eine Grimasse. „Bei meiner Geburt wurde ein genetischer Defekt festgestellt. Das 3te, 4te und 5te Gen in der Medus Gruppe ist von einer Mutation betroffen.“ „Deswegen wird das Camp auch Camp Medus genannt!“ Sie nickte. Wie offensichtlich mussten die Fragen noch sein? Das Licht war unangenehm grell und schmerzte in ihren Augen. Sie schwitzte. „Diese Mutation ist schon seit über fünfzig Jahren bekannt. Wir sind in der zweiten Generation und die dritte Generation wurde bereits erkannt!“ Sie lächelte noch immer. Aber ihre Finger begannen zu zittern. Das war die Folge von zu langem Stillsitzen und ihrer kürzlich veränderten Medikamentation. Wundervoll! „Was genau bedeutet diese Mutation?“ „Die Mutation kann verschiedene Ausprägungen haben. In meinem Fall beinhaltet sie eine sehr hohe Reaktionsfähigkeit.“ „Wenn ich…“ Sie fing den Ball ohne sonderliche Probleme aus der Luft. Die Moderatorin lächelte. „… fängst du natürlich den Ball!“ Sie gab lächelnd den Ball zurück. Das war eine leichte Übung, nicht besonders anstrengend, nicht besonders originell. „Das Ganze hat natürlich auch eine Kehrseite. Die Mutation regt ein erhöhtes Zellwachstum an. Das senkt unsere Lebenserwartung.“ „Kannst du das etwas näher beschreiben?“ Sie hatte die Aufgabe die hässliche Wahrheit etwas zu verschönern. Das hatte man ihr ebenfalls eingebläut. Niemand wollte wissen, dass Menschen wie sie damit rechnen konnten als Kleinkind Krebs zu bekommen. Selbst wenn inzwischen meistens heilbar, galt Krebs immer noch als eine der schlimmsten Krankheiten in ihrer Gesellschaft, zumindest hatte man ihr das gesagt. Auch sie schauderte es bei dem Gedanken daran. „Sieben Fälle sind aus der ersten Generation bekannt. Von denen haben drei keine Behandlung bekommen. Sie starben alle bevor sie zwölf wurden. Die anderen haben nur unzureichende Behandlung erfahren. Keiner von ihnen lebt mehr. In meiner Generation wurden fünf erkannt. Der älteste hatte vorgestern seinen 25ten Geburtstag!“ „Das ist wundervoll!“ „Ja, wir hatten eine kleine Party! Geburtstage sind etwas Besonderes!“ Das war die Kurve hin zu etwas Positiven. Sie wollte nicht über Krebs reden oder darüber nachdenken, dass sie wahrscheinlich schon zwei Drittel ihres Lebens hinter sich hatte. „Und wie alt bist du, wenn man fragen darf?“ „Ich bin 17. Ich bin die Jüngste“, antwortete sie schüchtern. „Und wie lange bist du jetzt schon im Camp Medus?“ „Seit etwas über einem Jahr. Vorher war ich in einem Internat mit spezieller medizinischer Betreuung. Es war eine komplett neue Erfahrung. Davor hatte ich diesen Defekt nur als Krankheit gesehen. Aber jetzt sehe ich ihn als Chance.“ Wieder eine kurze Kontrolle des Publikums. Sie wollte hier raus! War die Zeit nicht langsam um? Ihre Finger verkrampften sich um die Armlehne. „Ich hatte vor drei Monaten meinen ersten Einsatz. Es war das Erdbeben. Wir waren draußen bei den Verschütteten. Die Schutthaufen sind extrem instabil. Das ist gefährliche Arbeit. Wir arbeiten mit dem Spezialistenteam zusammen. Durch mein erhöhtes Reaktionsvermögen, konnte ich den Schutt ausweichen und auch die anderen warnen. Wir haben dort draußen Leben gerettet!“ Sie nickte bekräftigend. „Das war ein einzigartiges Gefühl, so als wären wir Superhelden!“ „Superhelden, die ihr Leben der Rettung von Menschenleben verschrieben haben!“ Sie nickte. „Früher habe ich mich oft gefragt, wieso gerade ich. Wieso passiert mir das? Aber seit diesem Tag frage ich mich das nicht mehr!“


© lerche


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Beschreibung des Autors zu "Medus - Teil 1"

Ich habe diese Geschichte schon vor längerer Zeit aus verschiedenen Perspektiven geschrieben mit Szenen die sich teilweise überlappen. Jetzt bin ich dabei diesen Szenensalat zu einer schlüssigen Geschichte zusammen zu fügen und hier schrittweise zu veröffentlichen.
Ich hoffe, sie gefällt euch.

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