Der schwarze Bach
Eine Keltensiedlung im heutigen Berchtesgadener Land wurde nach deren Zeit von den Römern als Zollstation wiederaufgebaut. Die Legionen profitierten schon damals vom regen Salzhandel im Rupertiwinkel. Sie stellten einen ihrer besten Männer als Verwalter dort auf. Sein Name war Marciola. Abgeleitet stammt auch der Ortsname Marzoll. Im Mittelalter errichteten die Rittersleut´ ein Kastell mit 4 Türmen und auf der idyllischen Anhöhe die kleine Dorfkirche St. Valentin. Kein Mensch vermutete über Jahrhunderte auch nur im Geringsten, welches Geheimnis tief im Inneren des Zöllnerbergs schlummerte.
Auch nicht die herrischen Bischöfe des benachbarten Salzburg. Diese folterten die meiste Zeit auf der Burg Werfen Weng im Salzkammergut. Als Grundschulkind war ich Ministrant und für so einen 8-jährigen waren 1 Mark 50 damals eine Menge Geld. Unser Messdiener Georg verteilte die kleinen Geldsäckchen am Ende jedes Gottesdienstes. In der Sakristei fragten wir Kinder uns jedes Mal, was sich wohl hinter der schweren Eisentür verbirgt, die dort fast eine gesamte Mauer ausfüllte. „Nichts, blankes Gestein“, antwortete unser Pfarrer, als wir uns schließlich einmal erkundigten. Tatsächlich war es so.
Der treue Georg öffnete sie nach einer Samstagabendmesse für alle Ministranten. Hinter dieser Türe war wirklich nur eine Wand. Zugemauert mit Sandstein und Geröll. Doch wie auch ich fragte sich der Messdiener, warum dort dann, wohl im tiefsten Mittelalter, eine so aufwendig verzierte Eingangstüre angebracht wurde. Der liebe Georg, Vater einer ledigen Tochter hatte einen Traum, von dem keiner wusste. Sein Ziel war es, endlich Ansehen zu erlangen. Die ganze Ortschaft schaute ihn wegen des unehelichen Kindes schief an. Eine neue Partnerin zu finden war schlichtweg nicht möglich. Er wurde im Privatleben gemieden, wo es nur ging. Die kalten und ungemütlichen Novembertage hielten langsam Einkehr. Georg´ s Tochter Hanna, Reinigungsfrau in meiner kleinen Schule, besuchte ihren Vater. Doch jener neblige und verregnete Abend verlief anders als sonst im kleinen Haus am Ortsrand.
Die beiden, trotz Meidung in der Öffentlichkeit, bildeten schon immer ein Team. Ihre Liebe zueinander war vielleicht gerade deshalb so intensiv. Sie fällten einen Entschluss. Noch in dieser Nacht sollte gegraben werden. Nur ein Messdiener konnte wissen, wo sich das Versteck des Priesters für den Kirchenschlüssel befand. Ohne Gewissensbisse und mit dem Blick in die Zukunft öffnete das Duo um zwei Uhr morgens still und leise die Sakristei. In den Gassen Marzolls war ohnehin keine Menschenseele mehr zu sehen. Hanna drehte den Schlüssel der geheimnisvollen Türe anschließend drei Mal nach rechts. Das rostige Schloss knirschte ein wenig. Gleich nach dem Öffnen der Pforte setzte Georg mit der Schaufel an und stieß zu. Hanna, auf einem Hocker stehend, lockerte die Ränder mit einem Eispickel. Beide vermuteten, dass die Schicht nicht dicker als einen Meter sein würde. Vielmehr wünschten sie es sich. „Etwas unheimlich ist das schon. Zudem riskant!“, murmelte die junge Frau. Ihr Vater ließ sich dadurch nicht beirren und kam deshalb gut voran. Immer mehr Gestein bröckelte von der Wand. In tiefster Nacht entdeckten Georg und seine Kleine die Öffnung in einen Gang in St. Valentin. Des Messdieners Faszination schwenkte nun um in Euphorie. Nachdem die ersten Meter mit einer Taschenlampe ausgeleuchtet waren, schritten beide in die Gruft. Der schweflige Geruch mischte sich mit Weihrauch aus der Sakristei. „Der Tunnel führt in Richtung der Burg“, war sich Georg sicher.
Weiterhin stellte er die Vermutung an: „Die Ritter des Marciola – Ordens


benutzten diesen unterirdischen Gang wohl als Fluchtweg bei Angriffen, Hanna!“ In der Tat war man zur damaligen Zeit in einer Kirche sicher. Zuviel Ehrfurcht vor Gott hatte sogar der Feind in diesem Fall. Man schlich weiter in die Tiefe. Das Mädchen tastete sich zur Absicherung an den feuchten Muren entlang. „Sieh´ mal Vater!“, rief sie, als sie sich an einer Abzweigung befanden. Hanna war mit ihren Händen auf eine rötliche Marmortafel gestoßen. Römische Ziffern zierten das völlig erhaltene Exemplar. Der Messdiener stockte kurz: „Das ist erst der Anfang, Liebes. Der Gang teilt sich sogar. Hier unten ist noch mehr, glaub mir.“ Nebst der Entdeckung war nun auch das Plätschern eines unter der Erde fließenden Baches zu hören. Mit kleinen Strahlern bestückt suchten Vater und Tochter nach einer vermeintlichen Quelle. Nicht wenig später spiegelten sich ihre Schatten im Wasser des wohl größten Mysteriums der Ortschaft Marzoll. „Ein schwarzer Bach“, flüsterte die nun auch völlig überwältigte Frau ihrem Vater zu.
Nicht wegen der Dunkelheit, nein, dieses Gewässer floss wahrhaft über tiefschwarzen Speckstein. Letztendlich fanden der Messdiener und seine Hanna in der grauen Nacht des 5. Novembers die wahren Schätze mehrerer Epochen. Estruskerschädel am Grunde des schwarzen Baches. Keltische Werkzeuge. Waffen der Römer und nicht zuletzt: Goldmünzen, bisweilen noch undefinierbar geprägt, aus dieser alten Zollstation. Nach diesen grandiosen Funden zog es Georg weg aus dem Dorf in die große Stadt. Aus der Kirche wurde er wegen Einbruchs ausgestoßen. Im Ort wurde er ohnehin nie akzeptiert. Er war eben ein freier Geist. Nie war er glücklicher als jetzt. Seine neue Freundin beglückwünschte ihn im feinsten Restaurants Münchens zu seiner neuen Arbeit. Das Museum stellte ihn ein. Über die Vitrinen aus Marzoll strich er jeden Tag zärtlich mit der Hand, wenn er sie säuberte. Einmal sagte ein Besucher: „Welch für einen unschätzbaren Wert das alles haben muss.“ „Fast so viel, als wenn man sich selbst gefunden hat“, erwiderte Georg.


© Roman Reischl


5 Lesern gefällt dieser Text.






Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der schwarze Bach"

Re: Der schwarze Bach

Autor: Ryvais   Datum: 17.06.2015 21:33 Uhr

Kommentar: Interessant und gut geschrieben! Ich fand es gut, wie ein Außenseiter in der Gesellschaft so einen Durchbruch erleben kann.
Lg Ryvais

Kommentar schreiben zu "Der schwarze Bach"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.