Es war einmal ein Leib. Er war schöner als eine Rose, glatter als Seide und praller als Sonne und Mond zusammengenommen. Er strahlte vor mir in der Wildnis. Der Leib konnte sprechen, doch ich verstand seine Gedanken nicht. Vielleicht waren es auch gar keine, vielleicht waren es nur Impulse. Sie erstreckten sich von seinem leuchtenden Inneren bis auf seine leuchtende Oberfläche – und er schaute mich an.

„Siehe, dies ist mein Leib“, sprach die Erde aus ihm, „Nun koste davon und verschwägere dich mit mir, denn eines Tages wird es keine Leiber mehr geben für dich – und wenn, dann werden sie nicht von mir sein, sondern sie werden aus dem fortgeschrittenen Herbst zu dir kommen, welk und matt“.

Und ich betete: Erde, gib mir den Leib, aber lass mir mein Herz, denn mein Herz hängt an meinen Gedanken und mit diesen Gedanken erkenne ich dich und die Schönheit deines Leibes in Ewigkeit – Amen! Der Leib aber sagte: ich bin dein Herz wert. Nein, nicht nur das Herz. Ich betrachte dich, wenn ich dir gegeben werde, als mit mir verbunden, bis daß eine meiner Launen uns scheidet. Du darfst nicht bemerken, wie der Frühling verweht, der Sommer vergeht, der Herbst vor dir steht. Wenn mir aber dein Herz gehört, werde ich dich lehren zu sehen, was ich nicht bin!

„So spricht meine Tochter“, sagte die Erde. „Bist du mein Sohn?“ Ich aber antwortete „Ich bin wie der Wind, der dein Sohn ist, ich bin wie einer der Sandstürme, die alle deine Söhne sind und ich bin zugleich nicht dein Sohn, obwohl mein Leib dir und deinen Leibern gehört – verachte mich nicht“.

Doch die Erde blieb in Treue zu sich fest, rund, oder auch eine Scheibe, denn sie schrie mich an. „Dies ist mein Gebot! Meinen Leib will ich dir geben, sein Herz lege ich obendrauf, denn es soll an dich glauben. Du aber sollst leben im Leib und nicht in der Erkenntnis! Alles, was mein ist – und das ist alles, bis auf deinen Hang zu allem Fleischlosen, Unleibigen. Darum folge deinem Leib. Er führt dich zu meinem Leib und mein Leib führt dich zur Auferstehung des Fleisches, zum Frischen Wasser, zum Sein vor dem Nichtsein. Nimm von allem und ziere dich nicht. Frage vor allem nicht nach der Macht, die hinter mir steht, mich dreht, um die Sonne schickt und eine Vorhandenheit gibt, deren Geheimnisse unergründlich sind“.

Da verblasste der Leib vor mir, wurde zu einer Salzsäule – Feuer und Wasser traten aus Himmel und Erde. Alles verwandelte sich! Um mich entstand ein einziges, riesiges Gebiss!

Wer sich mir da zu erkennen gab, wusste ich nicht. Ich vermutete jedoch, es könne nur Mr. Hyde sein. Der große Schöpfungs-Mr.-Hyde, auf dessen Dr. Jekill- Fassade ich bislang fröhlich hereingefallen war. Das nannte ich „Positives Denken“. Und wenn ich nicht gestorben bin, dann glaube ich auch heute noch – sicherheitshalber – daran…


© Sur_real


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