Ein Weihnachtsmann stand vor der Bäckerei Andexlinger in Abtenau, kaute an einem Salzweckerl und stieß widerwillig in genau berechneten Abständen ein „Ho- ho-ho“ hervor, das an diesem kalten Morgen von vorweihnachtlichem Atemrauch begleitet wurde, der einem Grönlandwal alle Ehre gemacht hätte. Ja, so war das, auch wenn viele jetzt sagen werden, in Abtenau steht nie und nimmer ein Weihnachtsmann vor einem Geschäft, weder vor dem Andexlinger noch vor der Konditorei Wageneder, nicht vor dem Hollaus und nicht vor allen Häusern auf dem Marktplatz. Ja, die Abtenauer werden sich daran gewöhnen müssen, dass sich mit den Zeiten auch die Gebräuche ändern, also einem ständigen Wandel unterliegen, dem weder die katholische Kirche noch die auf Authentizität (vom griechischen authentikòs und dem spätlateinischen authenticus) bedachte Tourismusbranche Einhalt gebieten können.
Also, um zurückzukommen, vor Wageneders Hotel und Feinbackstube stand kein Weihnachtsmann, liebevoll und urdeutsch Santa genannt, sondern das Christkind. Es rief nicht Ho-ho-ho, sondern läutete mit einem zarten Glöckchen aus imitiertem Silber. Rückschauend bin ich mir sicher, dass es kein Echtsilber war. Es klang sehr hell – das Glöckchen nämlich - und stach damit noch mehr von dem eher bedrohlichen, grundlosen Gelächter des Santa ab.
Vor dem Gasthaus Kerschbaumer aber flanierte ziemlich verloren eine Gestalt, die in ihrem Aussehen einer Mischung aus Krampus, Angestelltem der Bundesforste – also Holzknecht – und einem Besenbinder aus dem Landkreis Celle ähnelte. Es war der in dieser Gegend überhaupt nicht bekannte, daher auch nicht populäre Knecht Ruprecht. Theodor Storm hätte seine Freude daran gehabt, denn der Knecht – ob man ihn so nennen darf? – hatte ein immer wiederkehrendes „Von drauß‘, vom Walde komm ich her“ auf den Lippen, wie man so sagt. Warum der raue Geselle sich gerade vor dem Kerschbaumer aufstellte, dessen Betreiber weder dem mittel- noch norddeutschen Sprachraum zuzurechnen sind und nach grober Einschätzung eher das alpenländische Brauchtum hochhalten, vermag ich nicht zu sagen.
Vor dem Poidlwirt aber – ich werde mich an andere Namen nicht gewöhnen – will es auch nicht – stand ein weißer Schlitten mit vorgespannten weißen Pferden. Wieder kein weihnachtlich hieb- und stichfestes Symbol, weil sich ein weißes Pferd nicht schlagen lässt – also hiebfest ist – und die Schlitten – man kann es nachschlagen – durchwegs von Nordhirschen gezogen werden.
Jetzt komme ich genau zu der nagenden Frage, warum einzig die Wageneders sich zum österreichischen Christkind bekennen, die Andexlingers und Kerschbaumers aber nicht. Ich überlege hin und her, schreite die Häuserzeile auch hin und her ab – und bei diesem beschaulichen und investigativem Tun keimt der Gedanke, dass es sich hier um eine dreist erfundene, wenig lustige Geschichte handelt, die weder mit den angesprochenen Familien noch mit weihnachtlicher Beschaulichkeit in Verbindung gebracht werden kann.
Warum fällt mir bei dieser Gelegenheit der Begriff Nonsens ein?


© ingo.baumgartner


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Kommentare zu "Vorweihnachtliches Abtenau"

Re: Vorweihnachtliches Abtenau

Autor: Hans Finke   Datum: 04.12.2014 21:43 Uhr

Kommentar: Nonsens? … nur weil du Weihnachten so schön „zerrissen“ hast, entkleidet der hohlen Hüllen, wie die russische Babuschka? – Aber die ist ehrlich gemeint. –
„Weihnachten gibt’s nicht mehr, sein tiefer Sinn ging verloren“, sagte kürzlich ein ganz Drolliger zu seinem Freund. „Welcher Sinn?“ fragte der.
„Na, als ich noch fett Geld verdient habe, vor der Rente, da lagen wir immer am Südseestrand, mit Faltchristbaum, Pommery und einer Riesensause. DAS war richtiges Weihnachten… - Noch Fragen Folks? – Nix für ungut und besten Gruß Hans

Re: Vorweihnachtliches Abtenau

Autor: ingo.baumgartner   Datum: 05.12.2014 6:34 Uhr

Kommentar: Danke für die ausführliche Besprechung, Hans! LG Ingo

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