„Jetzt bleib doch mal bei der Sache!“
Ich überhöre ihn. Generell pflege ich verbale Auswürfe zu ignorieren, deren Erfüllung ich weder leisten kann noch leisten will.
Die Sache, von der mein Freund Edgar da redet, gibt es nämlich überhaupt nicht.
Und wenn doch, dann habe ich keine Ahnung, welche Sache das sein sollte.
Also überhöre ich ihn. Das übersieht er natürlich und redet weiter.
„Kannst Du Dich nicht einmal konzentrieren? Das ist wichtig!“
Was Edgar nicht weiß: Ja, kann ich, ich kann mich sogar mehrmals konzentrieren, sogar am Stück kann ich mich konzentrieren, aber jetzt nicht, zumindest nicht auf irgendeine Sache, von der er behauptet, sie sei wichtig, obwohl es sie nicht gibt.
Wäre sie wichtig (und würde es sie geben), dann würde ich mich selbstverständlich sehr gerne einmal oder mehrmals oder am Stück auf sie konzentrieren, aber ich habe momentan wirklich Besseres zu tun, als mich um lästige Konjunktive zu kümmern.
Zu aller erst muss ich herausfinden, wieso ich Edgar ein paar Zeilen zuvor als meinen Freund bezeichnet habe, denn genau genommen erfüllt Edgar kein einziges Kriterium, das jemand erfüllen müsste, um als mein Freund zu gelten.
Zum Beispiel habe ich keine Ahnung, wie er mit Nachnamen heißt (Menschen mit dummen Nachnamen brauchen Freunde mit dummen Nachnamen und ich habe keinen dummen Nachnamen), außerdem kenne ich sein Geburtsdatum nicht (ich gebe mich aus Prinzip nicht mit Menschen unter fünfundzwanzig Jahren ab und Edgar hat von Anfang an etwas infantil auf mich gewirkt) und obendrein hört er keltische Musik (und Menschen, die keltische Musik hören, sind meistens genauso zurückgeblieben wie ihr Geschmack).
Eindeutige Indizien dafür, dass ich keinerlei Grund habe, Edgar meinen oder auch nur einen Freund zu nennen, doch scheinbar hat irgendein mir noch unbekanntes Detail in seinem Wesen mein Gehirn dazu veranlasst, seinen Namen mit dem Attribut Freund zu versehen. Ich muss also weiter nachforschen.
Während ich mir das denke, beginnt Edgars linkes Augenlid zu zittern.
Das tut es, wenn er aufgeregt ist, zu wenig geschlafen hat oder eine Frau sieht, die seine Hormone in Wallung bringt und somit eben auch sein Lid.
Da ich keine Frau bin und auch nicht wie eine aussehe und ich Edgar heute Morgen erst um sechs statt um Viertel vor sechs angerufen habe (da stehe ich nämlich auf), komme ich zu dem Ergebnis, dass Edgar eindeutig aufgeregt ist.
Bevor ich mir allerdings Gedanken darüber machen kann, was ihn zu diesem vegetativen Ausnahmezustand gebracht hat, muss ich mir einen Tee kochen.
Und weil Edgar so wirkt, als würden gleich Sabberfäden aus seinem Mundwinkel auf meine unlackierte Eichholztischplatte tropfen, nehme ich gleich eine zweite Tasse aus dem Schrank, denn ich hänge sehr an diesem unlackierten Eichholztisch.
„Schwarz oder grün?“, frage ich und warte natürlich auf eine Antwort.
Als der Wasserkocher schon zu dampfen beginnt und ich noch immer keine Antwort erhalten habe, halte ich es für durchaus angemessen, mich umzudrehen und nach dem Grund des Schweigens zu erkundigen.
Doch ein Blick auf Edgars Augenlid lässt mich innehalten, denn genau das hat es auch getan: innegehalten. Es bewegt sich nicht. Kein Stück.
Edgar hat die Augen zu. Und das will was heißen, denn für gewöhnlich hopst Edgar wie ein tollwütiger Hase auf LSD mit immerzu weit aufgerissenen, informationsgeilen Augen durch das Leben. Und jetzt das.
„Peer...“
Wenn Edgar meinen Namen sagt, dann macht mich das immer ganz kribbelig, aber nicht, weil ich verliebt in ihn bin, sondern weil ich es hasse, wie er das macht: meinen Namen sagen. Er kann ihn nämlich nicht richtig aussprechen und das macht mich, wie gesagt, ganz kribbelig und ich muss sehr an mich halten, um den Wasserkocher beziehungsweise das kochende Wasser nicht zweckzuentfremden.
„PEER!“
Vor Schreck vergesse ich, die Tassen weiter festzuhalten und lasse sie dadurch logischerweise los, worauf sie sich logischerweise ziemlich schnell in senkrechtem Fall auf den Boden zubewegen, was ich nicht gut finde, denn sie sind neu.
Zum Glück bin ich kein Kind von Langsamkeit, und so kann ich gerade noch eine Fischbewegung vollführen, sodass die Tassen mit ordentlich Schmackes ihre Fallrichtung ändern und ein paar Zentimeter weiter auf dem Stück Boden aufkommen, auf dem der waldgrüne Teppich liegt.
„Das war knappich. Also, was jetzt: schwarz oder grün?“, frage ich nochmal und muss beim Aufheben der beiden Gefäße kurz tief durchatmen, denn wie gesagt, das war knapp.
„WAS INTERESSIERT MICH DEIN SCHEISS TEE, DU IDIOT?!“, meint Edgar.
Und das ist der Punkt, an dem ich eine Entscheidung treffe.
Es ist ja schon seltsam genug, dass ein Typ in meiner Küche sitzt, von dem ich nicht weiß, wieso mein Hirn gedacht hat, es müsse ihn mal kurz als meinen Freund bezeichnen, obwohl er das rein logisch betrachtet nicht sein dürfte.
Aber dass dieser Typ sich dann noch anmaßt, mir vorzuwerfen, ich könne mich nicht konzentrieren und der sagt beziehungsweise schreit, dass mein Tee scheiße sei, was er nicht ist, denn er war teuer, das führt zu weit.
Logische Konsequenz meines Gedankenganges wäre es jetzt natürlich, Edgar raus zu schmeißen aus meiner Wohnung, doch natürlich macht mir der Idiot wieder mal einen Strich durch die Rechnung, indem er gerade aufsteht und selber geht.
Erst will ich froh darüber sein, weil ich dann endlich meinen teuren und ganz sicher nicht scheißen Tee alleine trinken kann, aber dann fällt mir natürlich doch noch etwas ein und ich rufe Edgar hinterher: „Was für eine Sache hast Du eigentlich gemeint?!“
„ACH, LECK MICH!“
Da ich es nicht mag, wenn Menschen aufgrund ihres deutlich beschränkten verbalen Aktionsradius (basierend auf einem kargen Wortschatz) zu dererlei proletarischen Floskeln greifen, hätte ich jetzt allen Grund, Edgar unsere unter rein logischen Gesichtspunkten gar nicht existente Freundschaft zu kündigen, doch da ich nun doch neugierig bin, welche verflixte Sache den Kerl so in Rage versetzt hat, verlege ich diesen Trennungsakt auf einen Zeitpunkt, an dem ich mich informationell gesehen im Vorteil befinde.
Doch bevor die vorgeschriebene Ziehzeit meines Tees (weil ich mich nicht entscheiden konnte, habe ich mir einmal schwarzen und einmal grünen gemacht) vorüber sein kann, enerviert mich schon das einfallslose Piepen meines Mobiltelefons, weil es eine Nachricht bekommen hat, also ich.
Von Edgar. Der hat aber auch zu viel Geld.
„ich häte echt deien hilfe gebraaucht, man ich geh saufn“
Anhand seiner mangelhaften Tastentrefferquote erkenne ich, dass er den obligatorischen Kräuterlikör schon vor geraumer Zeit liquidiert haben muss.
Nein, ohne Frage: Edgar kann unmöglich mein Freund sein.

Wenn Menschen mich fragen, was ich eigentlich den ganzen lieben langen Tag mache, dann muss ich ihnen immer erst einmal erklären, dass sie ein sehr naives Bild von einem Tag haben, denn mir ist bisher in meinem ganzen Leben noch kein einziger Tag begegnet, der sich gegen Ende als lieb herausgestellt hätte.
Das Gemeine an diesen verflixten Tagen ist zudem, dass sie nie alleine kommen, sondern immer ihre stinkenden und unhöflichen Freunde dabeihaben.
Der stinkendste und unhöflichste Freund ist der Sonntag, denn an dem hängt noch der ganze Schmodder vom Samstag, an dem der ganze Schmodder der Werktage hängt (und das penetrant) und dann kommt noch der Schmodder vom Montag und all seinen stinkenden und unhöflichen Nachfolgern dazu.
Nein, Sonntage hasse ich wirklich wie die Pest. Außerdem kann ich da nicht einkaufen gehen, und das macht alles nur noch schlimmer.
Nicht, weil es mir so fehlt, dass man mich dumm anglotzt, was man bei meinem Einkaufen immer macht oder auch dann, wenn ich erzähle, dass ich jeden Tag einkaufe, und das gerne, nein – mir fehlt es, etwas erledigen zu können.

Es gibt Tage, an denen laufen die Menschen einfach alle viel zu langsam.
Sie stehen einem im Weg herum, sie schleichen vor einem her und benötigen aufgrund ihrer ausladenden Armbewegungen gerade so viel Platz, dass man sich nicht mal eben elegant an ihnen vorbei drücken kann.
Das sind Tage, an denen ich auch mal einen Polizisten umtacklen muss.
Ein Hindernis ist ein Hindernis - Uniform hin oder her.
Es gibt nämlich nichts auf der Welt, was ich mehr hasse, als nicht vom Fleck zu kommen. Gott muss ein ziemlich perverser Sack sein, keine andere Erklärung gibt es für die Tatsache, dass ich des Nachts ausgerechnet von Träumen heimgesucht werde, in denen ich, mit Auftragskillern oder meiner Mutter im Rücken, am Boden festklebe.
Darum liegt es nahe, dass ich wenigstens in meiner täglichen Freizeit versuche, dieser regungslosen Ohnmacht zu entkommen, indem ich so viele Strecken wie möglich mit dem Fahrrad bestreite. Bin ich auch sonst sehr sparsam: dieser Drahtesel hat mich damals ganze drei Monatsgehälter gekostet (ja, ich habe mal Geld verdient)!


© Merkwürdig


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Beschreibung des Autors zu "Zwei verkannte Genies"

Dies ist der erste Entwurf einer mich in einer schlaflosen Nacht überkommenden Roman-Idee. Da ich es nicht (mehr) gewohnt bin, humorvoll zu schreiben ─ aber einen großen Drang dazu habe ─, wirkt der Text eventuell noch etwas holprig.




Kommentare zu "Zwei verkannte Genies"

Re: Zwei verkannte Genies

Autor: Karsten Stapelfeldt   Datum: 06.07.2014 12:54 Uhr

Kommentar: Nur keine falsche Bescheidenheit, zumindest meinen Humor hast du gut getroffen. ;)

lg Karsten

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