Der Pfarrer ärgerte sich jede Weihnacht über die schlechte Gesangsqualität seiner Gemeindemitglieder. Darum liess er am 4. Advent zwei grosse Verstärker auf der Empore anbringen. Am Weihnachtsabend ging er zum Rednerpult und sagte: "Ich freue mich, dass ihr alle hier seid." Dann drückte er, ohne dass es die Gemeindemitglieder sehen konnten, einen Knopf, und das erste Lied ertönte in voller Lautstärke von der Empore herunter. Neben dem Pfarrer standen 12 eingekleidete Klosterfrauen und bewegten ihre Lippen zum Play-back. Die Menschen sassen in den Bänken und hörten der Musik andächtig zu.

Als sich in der 34. Minute der Mitternachtsmesse der Beginn des 3. Liedes auf der CD immer wiederholte, stellte der Pfarrer die Lautstärke leiser ein und betete mit der Gemeinde, dass die Melodie doch weitergehen möge. Nach 8 Minuten intensiven Betens, das eher einem grossräumigen Gemurmel glich, ging die Melodie weiter, die Gemeindemitglieder und der Pfarrer atmeten innerlich auf. Es atmeten auch die Klosterfrauen auf, die mit hochrotem Kopf endlich ihre Lippen weiterbewegen konnten.


© René Oberholzer


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