„Hallo, ist dort Max?“
„Nein. Hier gibt es keinen Max. Sie sind falsch verbunden.“
Der Satz mit Max ist kurz, reicht aber aus, um ihn zu elektrisieren. Nicht der Inhalt, aber die Stimme. Diese Stimme ist umwerfend: dunkel, rauchig, geheimnisvoll. Nur vier Worte, aber sie lösen einen positiven Schauder bei ihm aus. Unglaublich.
„Leider sind Sie falsch verbunden.“
Er will auf die Auflegetaste drücken, zögert aber noch einen Moment.
„Wissen Sie, wo Max ist?“
„Nein. Ich sagte doch, Sie sind falsch verbunden. Hier gibt es keinen Max.“
„Schade. Sie wissen auch nicht wo ich finden kann, Max?.“
Aha, eine Ausländerin! Exotin. Vielleicht Südamerika. Schwarze Haare. Schlanke Figur. Großer Busen. Dunkle Haut.
„Nein, nein. Tut mir leid. Hier gibt es wirklich keinen Max. Wer soll das denn sein?“
„Nu, Max eben. Max von Fitnessclub“, gurrt sie. Er fasst es nicht, wie sexy diese Stimme ist, sexy, lüstern und verführerisch.
Wohl eher eine Osteuropäerin, wegen diesem „nu“, diesem kurzen, knappen „nu“. Eine rasante Russin oder Polin? Jedenfalls hat sie dunkle Haare. Keine Blondine, keine dieser Unterkühlten mit schneidender Stimme. Vielleicht Bulgarin oder Rumänin? Die kommen doch jetzt in Massen. Klein und schlank, wie diese Turnerinnen? Nein, dann müsste die Stimme piepsiger sein. Sie ist groß, ganz bestimmt groß und gut gebaut.
„Also leider bin ich nicht Max. Es wäre schön, wenn ich jetzt Max wäre, dann könnten wir uns für heute Abend zum Essen verabreden. Welcher Fitnessclub ist das denn?“
 
Das Gespräch wabert ein Weilchen hin und her. Er ist immer noch von dieser Stimme entzückt. Seine Phantasie gaukelt ihm eine Aphrodite nach der anderen vor, eine Helena, Marilyn, Brigitte, Claudia oder doch eher eine Svetlana oder Danuta? Nein, eher die Richtung Jessica, Julia oder Penelope. Ja, Penelope, der Stimme nach könnte sie Penelope Cruz sein. Inhaltlich bringt das Gespräch rein gar nichts. Es verebbt und endet nichtssagend. Aber man hat ja die Nummern automatisch gespeichert.
 
Am nächsten Tag drückt er den Knopf mit den gespeicherten Nummern.
„Jaaaaaaaaaaaaa?“
Ein Wort nur, aber die Verheißung ist sofort wieder da. Das Glück des Zuhörens beginnt erneut, das Glück des Lauschens auf diesen sonoren Klang, auf die Modulation, das Timbre. Die Elektrisierung erfolgt bei diesem einen Wort, diesem lang gedehnten, sanft auf und abschwingenden „Jaaaaaaaaaaa.“
„Haben Sie Max inzwischen gefunden?“
„Max? Wer ist denn da? Ach Sie! Die nette Mensch von heute früh. Wie geht es Ihnen?“
Das Gespräch dauert auch diesmal nicht lang und ist wieder nur ein belangloser Austausch von Nettigkeiten. Keine neuen Erkenntnisse, keine konkreten Ergebnisse, bis auf eines. Sie verspricht, auf sein leises Drängen, ihn wieder anzurufen. Morgen, ja morgen Vormittag. „Aber spät. Ich schlafe lanngge.“
Was hat sie wohl für einen Beruf, dass sie so lange schlafen kann? Und wie sie dieses "lannge" ausspricht. Einfach umwerfend.
Er kann den nächsten Tag kaum erwarten. Endlich, es ist schon bald zwei, klingelt das Handy.
„Hab ich Sie geweckt?“ Sie lacht über ihren Scherz, ein betörendes Lachen kullert aus dem Hörer und steigert seinen Adrenalinpegel.
 
Sie rufen sich jetzt regelmäßig an. Einmal am Tag. Immer spät abends hat es sich eingebürgert, so gegen elf. Sie reden über Gott und die Welt. Sie ist eine gute Zuhörerin, weiß aber auch viel, über Filme, Bücher, Fernsehen und gibt ihr Wissen gerne Preis. Er kann nicht genug bekommen, wenn sie redet, nicht von dem, was sie sagt, nur wie sie spricht. Er will sie nur wegen dieser rauchigen Stimme, wegen dieses oszillierenden Tonfalls, wegen des irritierenden Akzents hören. Einmal tippt er auf Französisch als Muttersprache, dann auf Spanisch oder vielleicht doch Russisch? Nur eins ist klar, Englisch ist es nicht und auch keine andere harte, germanische Sprache. Seltsam, wenn sie sich ereifert, verschwindet der Akzent und auch das Raue, das Verruchte. Dann redet sie wie eine ganz normale Frau von nebenan.
 
Neben der fixen Zeit hat sich eine weitere Regel in ihren Gesprächen eingestellt. Sie fragen nicht nach Herkunft oder Beruf des anderen, wollen nicht wissen, was man so getan hat, ja alle Einzelheiten aus ihrem Leben sind tabu. Sie haben sich, man mag es kaum glauben, noch nicht einmal ihre Namen mitgeteilt. Eine "Hallo" oder ein "ich bin's" reicht, der Klang der Stimme schafft sofort Klarheit. Gesprächsstoff gibt es trotzdem genug und damit genug Gelegenheit diese vibrierenden Töne, das leise Gekicher, das verhaltene Atmen oder das bezeichnende Schweigen aufzunehmen. Ihre Themen werden mit der Zeit freizügiger, anzüglicher, aber nicht obszön. Von Liebe ist die Rede, von Sex, von körperlichen Eigenschaften. Er bittet sie, ihren Körper zu beschreiben. Sie tut es, bereitwillig, offen, freimütig. Sie teilt ihm mehr mit, als er erwartet hat und zählt dann, ohne dass er es gewagt hätte, sie danach zu fragen, ihre sexuellen Vorlieben auf und nennt sogar abartige Praktiken, die ihn erröten lassen. Ihn, der in Sachen Frauen und Sex verklemmt ist, der rot und unsicher wird, wenn es um Liebe und so was geht. Aber wenn sie darüber redet, gefällt es ihm, ihre Worte stimulieren ihn, ihre Schilderungen findet er gar nicht anstößig. Im Laufe der Zeit fasst er mehr und mehr Vertrauen, nennt seine Schwächen, offenbart geheime Wünsche, schildert seine negativen Erfahrungen in Punkto Sex und Liebe, bekennt seine Probleme, wenn er versucht mit Frauen anzubandeln. Dann, nachdem das kleine Pflänzchen Vertrauen genügend herangewachsen ist, beschreibt auch er seinen Körper, beklagt sich über die vielen Akne im Gesicht, jammert, dass er eher klein geraten ist und, nachdem er lange mit sich gerungen hat, dass er einen viel zu kleinen Schwanz habe. Resigniert stellt er fest, dass dies, nur dies, die Ursache seines ganzen Leidens sei, der Grund, dass er immer noch allein sei und vermutlich nie eine Frau finden würde, die zu ihm passt. Sie hört zu, lässt ihn wissen, dass sie ihn versteht, nimmt seine Probleme ernst, gibt Ratschläge, ermuntert ihn, baut ihn auf. Sie ist die reinste Psychotherapeutin. Alles lässt sich so einfach sagen, wenn man den anderen nicht kennt und nicht sieht. Und es tut so gut, endlich reden zu können und vor allem, dass es jemanden gibt, der zuhört. Dass diese Frau ihm zuhört, seine Probleme ernst nimmt, das lässt ihn jedes Mal aufs Neue erstaunen und verwundern. Und natürlich ist es auch diese Stimme, die unverändert ihren Reiz ausstrahlt, ihn gefangen nimmt, ihn fasziniert.
 
Die Gespräche machen ihn sicherer, mutiger. Er sieht seine Chance und macht einen Vorstoß. Ob man sich nicht doch mal treffen könnte? Schweigen.
„Hast du mich nicht verstanden?“
„Doch.“
„Also, was ist?“
„Ich weiß nicht. Es läuft doch prima mit uns, so wie es läuft.“
Doch nun hat er sich in seine Idee verrannt. Nun will er raus aus der Akustikendlosschleife, will, dass diese seltsame Frau in sein reales Leben tritt, will sie sehen, mit ihr zusammen sein, ja,  warum auch nicht, mit ihr ins Bett gehen, mit Penelope, wie er sie für sich genannt hat. Sie blockt, will nicht, verzögert, erfindet Ausflüchte. Auf einmal ist wieder von Max die Rede, den er schon ganz vergessen hatte. Sie könne Max doch nicht hintergehen. Außerdem habe sie sehr wenig Zeit, weil sie dauernd unterwegs sei. Ob er wohl wisse, wo sie jetzt gerade sei. Das würde er nie erraten. Aber sie verrät es auch nicht, obwohl er nachfragt. Aber letztlich interessiert es ihn gar nicht, wo sie ist und was sie gerade tut. Er will seine fixe Idee realisieren, will sie treffen. Er insistiert, bedrängt sie, lässt nicht locker. Daraufhin meldet sie sich ein paar Tage lang gar nicht mehr. Seine Anrufe werden nicht entgegen genommen. Einen Anrufbeantworter gibt es nicht. Die flehenden SMS verpuffen. Er ist verzweifelt. Ist er mit seinem Egoismus zu weit gegangen? Hat er das zarte Pflänzchen, diese seltsame platonische Liebe zerstört, weil er sie mit Gewalt in reale Liebe verwandeln wollte? Ist die Zuneigung, die er doch deutlich spürt, da irrt er sich bestimmt nicht, verweht, noch ehe sie konkret werden konnte?
 
Doch dann ruft sie wieder an und tut so, als ob nichts gewesen sei. Sie entschuldigt sich, zuviel um die Ohren, zu oft weg, abends todmüde. Sie tut so, als habe er den Wunsch nach einem Treffen gar nicht geäußert. Er verschiebt seine Pläne, sie persönlich zu treffen, sie quasi mit Gewalt zu ihrem Glück zu zwingen, gibt sie aber nicht auf. Ihr Verhältnis läuft wieder auf den bewährten Bahnen. Jeden Abend Anrufe, immer pünktlich um elf. Ihre Stimme ist rauchiger denn je, noch verheißungsvoller, noch sehnsüchtiger als früher. Ja sie klingt selbst dann schon fast wollüstig, wenn es nur um die Tomatensuppe geht, die sie sich gerade gemacht hat. Aber meistens geht es nicht um Tomatensuppe, auch nicht mehr um Filme, um Bücher oder Fernsehen, es geht nur noch um Sex. Selbst eine erfahrene Telefonsexanbieterin würde vor Neid erblassen, wenn sie ihren Gesprächen, nein, den Monologen dieser Frau, lauschen könnte. Er wird immer verwirrter.
 
Dann, gut zwei Monate sind seit der zeitweiligen Funkstille verstrichen, hält er es nicht mehr aus. Jeden Abend wird er aufgeputscht, auf Hochtouren gebracht, in den sexuellen Wahn getrieben, taumelt von einem virtuellen Orgasmus zum nächsten. Er muss sie endlich sehen, muss sie endlich anfassen, küssen, besteigen, zum Ziel kommen. Sein neuer Versuch ist die reine Erpressung und zugleich Notwehr, bevor er selbst im Schlamassel der desorientierten Gefühle untergeht.
„Wenn du mich nicht endlich triffst, höre ich auf, mit dir zu telefonieren.“
„Nein, bitte nicht“, flüstert sie mit tränenerstickter Stimme und schnieft. Er sieht förmlich die Tränen über die noch nie gesehenen Wangen herunterrollen.
„Nein, bitte nur das nicht. Wir verstehen uns doch so gut. Warum willst du alles kaputtmachen?“
„Warum kaputtmachen? Im Gegenteil, das wird erst der richtige Anfang für uns beide. Wir tauschen unser Telefonleben gegen ein normales aus. Hör mal, ich bin verrückt nach dir. Ich liebe dich. Ich will dich haben, mit dir leben. Wir sind füreinander bestimmt, davon bin ich überzeugt. Verstehst du? Es reicht mir nicht, nur deine Stimme zu hören. Du machst mich rasend. Wir müssen uns treffen. Also, wo und wann?“
Und so weiter, und so weiter. Sie gibt schließlich auf, kapituliert, führt noch nicht einmal mehr Max ins Feld, den es vermutlich gar nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat.
„Wenn du unbedingt willst. Aber ich sage dir, du wirst sicher enttäuscht sein. Kennst du das Café Herrmann am Markt? Ja? Morgen Abend, neunzehn Uhr."
Sie sagt neunzehn Uhr, es hat etwas förmliches, wie die Abfahrtszeit eines Zuges.
"Ich habe eine graue Jacke an und einen roten Schal und halte ein Buch in der Hand. Welches? Ach ja! Das sexuelle Leben der Catherine M. Das würde ganz gut passen.“
 
Das Café Herrmann hat große Glasfenster. Es ist Herbst und um sieben ist es schon recht dunkel. Als er langsam über das Pflaster des großen Marktplatzes geht, sieht er das gelbe Licht hinter den Scheiben schon von Weitem. Den ganzen Tag über hat er sich ausgemalt, wie sie wohl aussieht, seine Penelope Cruz. Lange schwarze Haare, groß, mindestens so groß wie er, vielleicht sogar größer, schlank, mit schmaler Taille, etwas ausladenden Hüften, einem Superbusen und natürlich langen Beinen, unendlich langen Beinen. So wie Mann sich die ideale Frau vorstellt, so muss, soll und wird sie sein. Direkt vor dem Café stehen zwei Bauwagen, die den Blick auf die Fenster versperren. Er muss zwischen ihnen durch, um den Eingang zu erreichen. Da sieht er sie. Er bleibt stehen. Sie muss es sein. Sie sitzt direkt am Fenster, wie auf einem Präsentierteller. Graue Jacke, roter Schal, kein Zweifel. Er bleibt im Schatten der Bauwagen stehen. Sie kann ihn nicht sehen, selbst wenn sie hinausschauen würde, selbst wenn sie wüsste, dass er dort ist. Aber das tut sie gar nicht. Er beobachtet sie. Sie schaut unruhig in die andere Richtung, zur Tür. Dann fällt sein Blick auf das Buch, das sie überdeutlich in der linken Hand hält. Die letzten Zweifel sind dahin. Der rote Schal leuchtet. Sie ergreift nervös das Glas, das vor ihr auf dem Tisch steht, dreht es unentschlossen, schwenkt es, als ob sie das Aroma, das Bouquet herauslocken will, riecht, hebt es an die Lippen, nippt an einer dunkelgelben Flüssigkeit, stellt es wieder ab. Die Finger trommeln nervös auf die Tischplatte. Sie schaut immer wieder zur Tür, dann zu dem Glas, dann zu dem Buch, als ob sie sich vergewissern müsste, dass ihr Erkennungszeichen noch da ist und immer öfter auf ihre Armbanduhr. Auf die Idee zum Fenster hinauszusehen, kommt sie nicht, aber was würde sie schon sehen. Schließlich holt sie ihr Handy aus der kleinen Handtasche. Tippt auf eine gespeicherte Nummer. Sein Handy meldet sich. Es ist auf leise eingestellt und er lässt es klingeln. Er bleibt in Deckung, in sichere Entfernung. Es ist halb Acht, dann dreiviertel. Endlich scheint die Frau des Wartens überdrüssig zu sein. Sie holt ihr Portemonnaie aus der Handtasche, zieht einen Geldschein heraus, winkt die Bedienung herbei.
 
Er schleicht sich rasch davon, überquert den Marktplatz. Aber bevor er in einer der einmündenden Straßen verschwindet, schaut er noch einmal zurück und sieht, wie sie mit hängendem Kopf das Lokal verlässt.

Falsch verbunden


© yupag chinasky


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Kommentare zu "Falsch verbunden"

Re: Falsch verbunden

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 08.02.2020 23:30 Uhr

Kommentar: Lieber yupag,
sehr schön geschrieben. Ich bin während des Lesens süchtig geworden, weil mich das Ende brennend interessierte. Fein. Ich empfehle eine Fortsetzung ...
Liebe Grüße Wolfgang

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