Der Augenblick der Stille

Seit zehn Jahren bin ich schon in Rente. Seit zehn Jahren auch allein. Kurz darauf, nachdem ich meinen Ausstand mit meinen Kollegen gefeiert hatte, verstarb meine Frau, mit der ich in unserem Leben nach der Arbeit durch die Welt reisen wollte, um die Orte zu besuchen, von denen wir immer geträumt hatten. Nun ist sie mir vorausgegangen an den ort ohne Zeit.

Es hat lange Jahre gedauert, bis ich dem Leben wieder schöne Seiten abgewinnen konnte. Jetzt gibt es wieder Tage, an denen es mir gelingt, nicht an sie zu denken. Es gibt jetzt Stunden, die es mir vergönnen, traumlos zu schlafen. Es gibt jetzt Minuten, in denen ich gewillt bin, unsere Träume zu leben. Es gibt jetzt Sekunden, in denen ich zaghaft denke, dass es für mich eine Zukunft ohne sie geben kann. Es gibt jetzt Momente, in denen ich Gott verzeihe, dass er sie mir genommen hat.

Ich schaute dem letzten Sommer zu mit seinen langen und heißen Tagen und seinen kurzen, schwülen Nächten, ich schaute dem frühen Herbst in seiner Farbenpracht zu und den zu Boden schwebenden Blättern nach den ersten frühherbstlichen Stürmen. Ich schaute dem späten Herbst zu mit seinen gelbrotbraunen Laub und den stürmischen Winden, der die Bäume entblätterte und sie hüllenlos in den Winter gehen ließ; er ist dem Sommer schneller gefolgt, als ich erwartet hatte und in einen eisigen, schneereichen Winter hinübergeglitten.
Ich lebte im Winter, der das Land gefangen genommen hatte und kalten Wind über erstarrtes Land und Wasser gleiten ließ, der die Äste der Bäume brechen und die rollende Brandung und die wogenden Fluten niedergerungen und ihre Geschichten in Eis gekettet hielt.
Ich lebte im Winter, der meine Seele fesselte und dessen eisige Stürme meine Entschlos­senheit erstarrten. Nur meine scheue Zaghaftigkeit strich über das Eis zum fernen Horizont auf dem Meer der Verzweiflung.
Ich weiß wenig vom letzten Sommer, der schon lange aus meinen Gedanken entschwunden ist, der Frühling ist mir nur noch in schemenhaften Episoden in Erinnerung geblieben.
An eine Begebenheit kann ich mich auch heute noch sehr deutlich erinnern, als wäre es gestern gewesen.

* * *

Der Himmel bot sich wolkenlos dar und die Sonne schien am kornblumenblassblauen Himmel und erwärmte auch meine Seele.
Es war ein warmer Frühlingstag. Nicht so schwühlheiß, wie die von mir ungeliebten Sommertage und nicht so kalt, wie der mir verhasste Winter mit seinen feuchtgrauen Tagen, an denen mir der Atem an meinem Oberlippenbart gefriert und mir Zuhause tauend über die Mundwinkel rinnt und mir den Hemdkragen feuchtet. Nein, es war ein schöner Tag, so, wie ich ihn liebe: windstill, warm und ruhig. Ab und zu störte ein Hupen oder das laute Bellen eines Hundes meine Konzentration oder das schrille Geschrei von nahe gele- genen Kinderspielplatz ließ meinen Blick aus der Zeitung über deren Rand hinaus in das Leben schweifen. Die dudelnde Musik von der Liegewiese rechts von mir war rücksichtsvoll genug, um nicht sonderlich zu stören.
Auf dem Gehsteig, unterhalb des Parks, in dem ich auf einer Bank im Sonnenschein saß, drehte ein Junge in sportlicher Kleidung auf einem quietschenden Fahrrhad seine Runden. 'Na,' ging es mir durch den Kopf, 'ein richtiges Rad ist das nicht. Dass man mit so etwas überhaupt fahren darf? Kein Rücklicht, keine Lampe, ohne Klingel, ohne Schutz- bleche?' Kopfschüttelnd besah ich mir sein Treiben.
Sie werden sich fragen, wie ein alter Mann das auf einer Entfernung von fast dreißig Metern erkennen kann? Ich kann es, weil ich diese Geschichte ja schreibe!
Ich schaute dem Jungen, der etwa zehn, elf Jahre jung sein durfte, eine zeitlang fasziniert zu und staunte über die akrobatischen Kunststücke, die er mit dem Gefährt vollführte, ehe ich mich wieder in die Zeitung vertiefte. Wie jeden Tag las ich zuerst die Nachrichten, regionale, überregionale und weltbewegende, wichtige und unwichtige, dann den Börsenteil, nur so zum Spaß, denn ich habe weder genug Geld zum Spekulieren noch Wertpapiere in meinem Depot. Ich habe mein Auskommen, wie man so schön sagt. Dann las ich neugierig die Sportberichte. Früher habe ich Fußball gespielt und Squash und mich für Leichtathletik und Biathlon interessiert. Und zum Schluss, als Höhepunkt sozusagen, das Kreuzworträtsel. An diesem Tage war es außerordentlich kompliziert und schwierig.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Die Frage strich an meinen Ohren vorbei, ohne bewusst gehört zu werden, so sehr war ich in dem Rätsel gefangen.
»Hallo. Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Ich spürte eine Berührung an meiner Schulter, hob meinen Kopf und erblickte eine junge Frau mit einer rothaarigen Löwenmähne, die ein sommersprossiges, freundliches Antlitz rahmte.

Es geschah im Bruchteil einer Sekunde. Es war der Augenblick, in dem ich zum ersten Mal in ihre Augen schaute. Ihr Blick traf mich so unvermittelt wie ein Sonnenstrahl, der unerwar­tet aus tintenschwarzen Gewitterwolken bricht. Er traf mich so plötzlich wie ein gewaltiger Blitzschlag, der mein Innerstes für die Dauer eines Wimpernschlags hell erleuchtet und in ein freundliches, warmes, löwenzahnblütengelbes Licht tauchte. Ein Blitzschlag, der mich rührte, mitten durch mein Herz schoss und sich auf dem Grund meiner Seele ausbreitete und dort in der Zeitlosigkeit des Augenblicks verweilte.
In diesem Moment hatte ich das Gefühl, das ihre Gedanken auch die meinen waren und meine Gedanken auch die ihren. Unsere Seelen berührten sich, zart erst und sehr vorsichtig, um der anderen kein Leid zuzufügen, dann liebevoll und zärtlich um sich, zu meinem Erstaunen, ineinander zu verschlingen, innig und vertraut. Ich kann mich an ihr vorsichtiges Lächeln und ihren überraschten Gesichtsausdruck erinnern, als sie mein scheues Lächeln erwiderte.
Ich schaute in ihr Gesicht und mein Blick verlor sich in der Dunkelheit ihrer Augenfreundliche Erscheinung, die so dunkel waren, wie die finsterste Nacht, in die ich mit verbundenen Augen starre. Augen, so dunkel wie eine Felsgrotte, in die sich noch nie ein Lichtstrahl verirrt hat und die dennoch ein anziehendes und beeindruckendes Leuchten ausstrahlten. Märchenhaft schön, schön und verzaubernd. Eine winzige Nuance dunkler und diese Augen wären nicht mehr von dieser Welt, – unirdisch, traumhaft. Die Anmutigkeit ihrer Augen verschlug mir einen Atemzug und ließ mein Herz für die Ewigkeit zwischen zwei Herzschlägen in Demut verharren.
Ich sah nur noch diese warmen, samtweichen, dunkelbraunen Sonnen und in ihnen vergaß ich alles, auch mein Alter und ihre Jugend.

In meinem Kopf ist Schweigen. Meine Gedanken haben ehrfurchtsvoll und vorsichtig Platz genommen, die Sprache verweilt stumm und demutsvoll und die Worte werden flüchtig wie Staub, von lauen Winden unausgesprochen verweht.
Die letzten Jahre meines Lebens erscheinen mir in diesem Augenblick so abwechslungsreich wie ein leerer Pappkarton und so trostlos wie die Strandstraße in Heiligendamm mit den vor sich hingammelnden und langsam sterbenden Villen, die, ihrer Schönheit, ihres Glanzes und ihrer Einzigartigkeit beraubt, dahinvegetieren und träumend der Zeiten gedenken, in denen sie Zuflucht waren und lebten. Ich fühle ihren Blick warm an meinem Herzen vorbei streichen und spüre, wie er tief in meine Seele dringt.
Es ist der Moment, in dem mir unsere schon gelebte Vergangenheit gegenwärtig, lebendig wird. Es ist der Moment, in dem ich sie wiedererkenne. Es ist der Moment, in dem ich mich ihrer erinnere.
Ich war auf alles vorbereitet, nur nicht auf diese unerwartete Begegnung mit ihr, der mir vertrauten Fremden.

Es ist der Augenblick der Stille.

Langsam breitet sich von ihrem Antlitz ein Schweigen inmitten des nachmittäglichen Lärms aus, das uns gefangen nimmt und mich mit ihr in eine andere Sphäre trägt. Ein Atemzug der Vollkommenheit, des unendlichen Gefühls des Glücks streift unsere Herzen.
Keine Stadtgeräusche, kein Kindergeschrei, kein quietschendes Fahrrad, keine rieselnde Musik, kein lautes Rufen und kein schrilles Lachen, keine Worte schwirren durch die Luft.

Stille umgibt uns, eindrucksvolle Stille.

In diesem Augenblick majestätischer Ruhe dringt die Melodie des Largo’ ‚Aus der Neuen Welt’ in mein Bewusstsein und der sanfte Blick ihrer Augen hält mich warm und liebevoll umfangen.

Kein einziges Wort, keine sparsame Geste, kein Augenaufschlag, kein Mienenspiel, kein stiller Gedanke, …

nichts, …
nur Stille.

Stille …
und das grenzenslose Verstehen, …
und die intime Nähe dieses ewig währenden Augenblicks.

Dieser erhabene Augenblick dauert den Hauch einer Sekunde, hält einen Lidschlag lang an und füllt die Ewigkeit. Sie muss ihr Leben lang schon gewartet haben auf diesen einen, diesen einzigartigen, göttlichen Moment himmlischer Ruhe und des grenzenlosen Verstehens.

Spätabends, nach einem einsamen, gedankenverlorenen Spaziergang im Park, zog ich die Haustür hinter mir zu und überließ mich meiner Verwunderung. Kein Mensch störte bis zu diesem Augenblick meine Abgeschiedenheit, ich hatte das Leben ausgesperrt, dachte ich. Sie hatte es geschafft, durch einen offenen Spalt in meinen Gedanken zu gelangen, eine Tür zu meinem Herzen zu öffnen und sich meiner Seele zu erinnern. Und in meinem Kopf wirbelten die Erinnerungen wie windgefegtes Herbstlaub in mein Bewusstsein.

Ich ahnte, welch ein Narr ich bin. Wie könnte ich ihr gefallen?
Mir wird das Herz schwermütig, wenn ich mich dieses Momentes erinnere. Gedanken kommen mir in den Kopf, für die ich mich eigentlich schämen müsste. Ich wünsche mir in den stillen Stunden der Abenddämmerung, noch einmal so jung sein wie sie, einmal nur, für einen einzigen Tag, dann würde ich es wagen, sie anzusprechen, die mir unbekannte, vertraute Fremde.
Wenn ich aus meinen stillen Träumen erwache, weiß ich, dass ich nicht genug für sie bin, aber ich erlaube mir, sie in meinem Herzen zu tragen.


© (C) 2012- Björn-Erik Nydal


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Beschreibung des Autors zu "Der Augenblick der Stille"

Schreibwerkstatt-Aufgabe
VORGABEN
Person 1:
eine 45jährige Frau, Single, Floristin, freundliches Gesicht mit Sommersprossen, rote, lockige, schulterlange Haare, hat einen Hund an der Leine
Person2:
ein Junge, 10 Jahre mit Fahrrad, Sportkleidung
Person 3:
ein Herr, 75 Jahre, Schnauzbart, liest Zeitung auf einer Bank

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