Ich liebe es, am Teich zu sitzen. Ganz nah am Wasser auf meiner Lieblingsbank. Meistens bin ich schon vor der Sonne da. Dann gibt es nur mich, den Teich und die Dunkelheit. Ich liebe es, die Frösche quaken zu hören. Und wie die Vögel den Morgen begrüßen. Als wären sie ein Orchester und der ganze Teich tanzt nach ihrer Melodie. Die Blätter gleiten über das Wasser. Die Farne schwingen hin und her. Alles ist in Bewegung. Und doch ist alles so wunderbar ruhig. Dann irgendwann lässt sich auch die Sonne blicken und taucht den Teich in dieses herrliche Morgenrot. Durch die Wärme verdampft das Wasser und Nebel steigt auf. Langsam breitet er sich aus, wie ein gefräßiges Nichts, um den ganzen Park zu verschlingen. Und ich mittendrin. Verschleiert und für andere Menschen unsichtbar. Doch um diese Uhrzeit, da sind am Teich ja noch gar keine Menschen. Da hört man auch keine Autos, die Lärm machen. Alles, was ich höre, ist die Stille, und die genieße ich!

Wenn es dann bereits hell ist, tauchen von hier und dort die ersten Menschen auf. Oft sind es alte Menschen, die, so wie ich, Freude daran haben, morgens spazieren zu gehen. Oder es sind jüngere Menschen, die, so wie ich, nur ein paar Minuten lang die Ruhe vor dem Tag genießen möchten. Oder es sind Mütter mit Kindern, die, so wie ich, Brot für die Enten dabei haben. Die Mütter schauen meistens verstohlen zur Seite, wenn sie mich sehen. Andere grüßen flüchtig, um sich dann schnell wieder dem Kind zuzuwenden. Es sind Momente, da wünsche ich mir den Nebel zurück. Die Kinder sind anders. Nur ganz wenige sind scheu oder ängstlich. Nur ganz selten höre ich sie rufen, guck mal, der Mann da! Die meisten lächeln mich an. Manche leisten mir Gesellschaft. Dann setzt sich auch die Mutter dazu, obwohl man ihr anmerkt, dass sie viel lieber auf einer freie Bank sitzen würde. Ein paar Kinder fangen gleich wie ein Wasserfall an zu reden. Was sie gegessen haben. Warum ihre Eltern blöd sind. Worüber man halt so redet. Die Mutter lächelt dann peinlich berührt, den Blick auf die freien Bank gegenüber gerichtet. Manchmal fragen die Kinder auch, was ich so mache. Dann erzähle ich ihnen, dass ich dem Teich beim Tanzen zugucke. Das finden sie meistens toll. Die Mütter aber nicht und ich spüre, wie ihr Unbehagen die ganze Luft verpestet. Ich gebe mir dann Mühe, beim Reden wenigstens nicht zu sabbern oder ich achte darauf, dass sich keine Luftbläschen an den Mundwinkeln bilden. Denn ich weiß genau, wenn das passiert, ist die Luft mit so viel Unbehagen verpestet, dass ich mir selbst wünsche, auf der freien Bank gegenüber zu sitzen.

Ich erinnere mich, dass ich damals in der Schule auch immer auf einer freien Bank saß. Es war eine Steinbank am Rand des betonierten Pausenhofs. Gerne hätte ich mit den anderen Kindern herumgetollt, doch dafür war ich zu schwach. Und außerdem wollten mich die anderen Kinder auch gar nicht dabei haben. „Fischgesicht, Fischgesicht!“, haben sie gerufen. Und dann haben sie angefangen, mich zu schubsen. Und ich habe angefangen zu weinen. Aber nicht wegen dem Schubsen, das tat nicht sehr weh, sondern wegen dem Fischgesicht. In meiner Not habe ich dann immer nach einem Lehrer Ausschau gehalten, aber zu meinem Pech waren die meisten gerade mit etwas anderem beschäftigt. Nur ganz selten hat jemand eingegriffen. So etwas wie „Lasst den Jungen in Ruhe!“, einmal auch „Lasst Fischgesicht, ich meine, lasst den Jungen in Ruhe!“ haben sie dann herüber gerufen, woraufhin die Meute auch meistens abgezogen ist. Das Schlimmste in solchen Momenten war aber nicht das Alleinsein, sondern das Schlimmste war, von allen anderen beobachtet zu werden. Mir war jedes Mal zum Weinen zu Mute, aber diesen Gefallen wollte ich ihnen nicht tun. Also habe ich einfach ganz fest die Augen zugemacht, so dass keine Träne mehr herauskullern konnte. Dunkel wurde es dann und der ganze Lärm, all das Lachen um mich herum, kam mir vor wie das bösartige Zischen finsterer Dämonen. Jedes Mal habe ich dann diese tiefe Traurigkeit gespürt und mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass Mama und Papa hinter mir stehen und mir zärtlich ihre Hand auf die Schultern legen.

Doch nicht die Hand meiner Eltern, sondern die Hand meiner Lehrerin war es, die mich eines Tages, als ich wieder einmal alleine und mit geschlossenen Augen auf dem Pausenhof stand, tatsächlich berührte. Sie sagte, ich solle nicht weinen, wobei sie anfing, mir mit der Hand den Rücken zu kraulen. Weil ich aber daraufhin erst richtig weinen musste, hat sie mich mit ins Gebäude genommen. Wir haben uns in eine leere Klasse gesetzt und dann hat sie tief Luft geholt und mir erklärt, dass die Kinder für ihre Bosheit eigentlich nichts könnten, weil sie nämlich unter einer schlimmen Krankheit litten, im Verlauf derer sich die Gehirne auflösten, so dass sie das, was sie sagen und tun, nicht mehr kontrollieren könnten. „Sie werden daran sterben“! hat sie mir noch verraten, und obwohl mir eigentlich klar war, dass sie mich anflunkert, taten mir die anderen Kinder seitdem immer leid, auch wenn sie mich geschlagen haben.

Diese Krankheit, sollte sie denn wirklich existieren, scheint extrem ansteckend zu sein, denn ich erinnere mich, dass ich bereits vor meiner Schulzeit mit Menschen in Berührung kam, die darunter stark zu leiden hatten. Der Nachbarsjunge zum Beispiel. Ich war gerade dabei, mein neues ferngesteuertes Auto einzufahren, da kommt er auf einmal um die Ecke und das Auto fährt ihm direkt über den Fuß. Was das denn soll, hat er gefragt. Und: „Seit wann dürfen Behindis denn überhaupt Auto fahren?“ Er hatte kaum ausgesprochen, da sehe ich auch schon meinen Vater aus dem Haus stürmen, sich den Jungen packen, ihn durch die Luft schleudern und dabei brüllen, er solle es nie wieder wagen, seinen Sohn zu beleidigen! Und während er ihn noch durch die Luft schleudert, sehe ich den Vater des Nachbarsjungen ebenfalls aus dem Haus stürmen. Aber weil auch mein Vater den Nachbarsjungenvater aus dem Haus stürmen sieht, lässt er den Nachbarsjungen los und packt sich stattdessen den Vater. Er solle gefälligst besser auf seinen missratenen Sohn aufpassen, brüllt er ihn dabei an. Woraufhin der Nachbarsjungenvater irgendetwas zurück brüllt. Aber weil mein Vater viel stärker ist als der Nachbarsjungenvater, wird dessen Brüllen immer leiser, bis es irgendwann ganz versiegt und beide, Nachbarsjunge und Nachbarsjungenvater, mit hängenden Köpfen abziehen.

Mächtig stolz war ich in diesem Moment auf meinen Vater. „So ein Arschloch“, höre ich ihn noch murmeln, während wir einträchtig den Nachbarn hinterher gucken. Dann hat er mich ganz fest an sich gedrückt und gesagt, ich solle mir von solchen Spinnern bloß nichts einreden lassen. Tausend Beleidigungen hätte ich ertragen, nur um diesen Moment erleben zu dürfen. Seine Umarmung war so stark, dass ich kaum noch Luft bekam. Und dennoch schmiegte ich mich nur noch fester an ihn. Er streichelte mein Haar und mich überkam dieses wunderschöne Gefühl, dass mir nichts Schlimmes mehr passieren konnte, solange er nur bei mir blieb.

Doch Papa blieb nicht. Es kam der Tag, an dem mein Leben, so wie ich es bisher kannte, aufhören sollte zu existieren, um einem anderen Leben Platz zu machen, das sich viel härter und kälter anfühlen sollte als das Vorherige. Es war der Tag, an dem ich ausprobieren wollte, ob die „Gardinen mit der goldenen Naht“ auch wirklich „eine Ewigkeit halten“, so wie ich das in der Werbung gesehen hatte. Was passiert also, wenn man sie ansteckt, hatte ich mich gefragt. Wird das Feuer einfach ausgehen? Werden Sie brennen und doch nicht versengen? Zu meinem Bedauern stellte sich heraus, dass sie brennen und dabei komplett in Flammen aufgehen. Und nicht nur die Gardinen. Leider auch die Rücklehne vom Sessel und die Hinterwand vom Schrank. Und wahrscheinlich auch das ganze Wohnzimmer, wäre Papa nicht so schnell mit dem Feuerlöscher zur Stelle gewesen. Den ganzen Tag über hatte ich Zimmerarrest. Abends hörte ich, wie Mama und Papa lange miteinander diskutierten. „Ich kann nicht mehr!“, hörte ich Mama schluchzen. Und: „Es geht über meine Kraft!“ Später vielen dann Sätze wie: „Wir können ihn ja regelmäßig besuchen!“ und „Es ist für ihn das Beste, da sind Menschen, die sich auskennen.“ Ein paar Augenblicke später klopfte es an die Tür und Papa bat mich, mit nach unten zu kommen. Sie müssten mit mir reden. Mama saß mit verweinten Augen am Küchentisch. Sie bat mich, Platz zu nehmen. Papa nahm auch Platz und sie fingen an, mir zu beteuern, wie sehr sie mich liebten, aber dass sie auch an meine Zukunft denken müssten. Sie meinten, ich könne das jetzt noch nicht verstehen, aber es wäre das Beste für mich, wenn ich Menschen um mich hätte, die auf „meine Besonderheiten“ „professionell“ eingehen könnten und genau wüssten, was zu tun sei. Sie meinten, das wäre aber natürlich erst einmal nur auf Probe und sie würden mich immer besuchen kommen. Und am Wochenende wäre ich sowieso zu Hause. Und es wäre alles nur zu meinem Besten. Und ich würde dort ganz bestimmt sehr glücklich werden.

Ich wurde dort nicht glücklich. Und sie kamen mich auch nicht immer besuchen. Und auch die Wochenenden war ich nicht immer zu Hause. Na gut, am Anfang schon, aber mit der Zeit wurde es weniger. Und weniger. Und weniger. Bis ich mich irgendwann nicht einmal mehr auf Weihnachten freuen konnte. „Deine Eltern haben gerade sehr viel Stress“, hieß es zunächst. „Deine Eltern haben sich scheiden lassen“, hieß es irgendwann später. „Deine Eltern sind weggezogen“, hieß es schließlich. Hin und wieder bekam ich noch einen Brief, mal von Mama, mal von Papa. Aber weil ich während des Lesens immer so viel Weinen musste und danach tagelang traurig war, hielt man es für das Beste, mir keine Briefe mehr auszustellen.

Ein zu Hause habe ich seitdem nie wieder gehabt. Nur den Teich habe ich. Ganz früh am morgen, wenn die Welt noch schläft, ist es am Allerschönsten. Während die Vögel singen und sich der Farn dazu leise im Wind bewegt, schließe ich die Augen und versuche, den Zauber in mich aufzunehmen, der diesen Ort umweht. Die Luft, die ich einatme, füllt meinen Körper und hinterlässt dieses Gefühl von Geborgenheit, das ich noch aus Kindertagen kenne und seitdem so schmerzlich vermisse. Die Vögel sind der Mund meiner Mutter. Der Wind ist die Hand meiner Mutter. Die Bank ist der Schoß meiner Mutter. Ich sitze und fühle und höre und alles ist gut.

Doch wie ich das Leben kennen gelernt habe, ist Glück immer nur von begrenzter Dauer. Und so war es wohl auch nur eine Frage der Zeit, bis das Böse sich aufmachen würde, um mir auch dieses bisschen Glück wieder wegzunehmen. Passiert ist es an einem Samstag. Ich weiß noch, dass ich an jenem Morgen besonders früh am Teich war. Von den Fröschen war nichts zu hören und selbst die Vögel schienen noch zu schlafen. Und so setzte ich mich auf die Bank und wartete auf das Erwachen der Welt. Alles war so friedlich wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass das Böse an diesem Morgen bereits längst in den Büschen lauerte. Eine Weile verging, da hörte ich auf einmal Schritte am Wegesrand. Einen Steinwurf von mir entfernt, tauchte aus der Dunkelheit die Silhouette einer Frau auf. Jedenfalls vermutete ich aufgrund von Gang und Größe, dass es eine Frau war. Sie hatte es eilig, so als wolle sie den Park schnell hinter sich lassen. Als hätte sie bereits eine Vorahnung, dass ihr gleich etwas Schreckliches zustoßen würde. Ihre Angst war so stark, dass ich sie von Weitem spüren konnte. Ihre Schritte wurden schneller und sie hatte es auch schon bald geschafft, da sprang hinter ihr plötzlich ein Schatten aus dem Gebüsch. Ich hörte sie kurz aufschreien. Dann sah ich, wie sie zu Boden glitt und über ihr diesen Mann. „He!“, rief ich, doch so leise, dass der Mann mich nicht hören konnte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Am liebsten hätte ich die Augen zugemacht, doch damit war der Frau nicht geholfen. Also erhob ich mich und rief mit zitternden Knien noch einmal etwas lauter „He!“ Der Mann sah auf. Sein Blick glich dem eines Raubtiers, das beim Zerlegen der Beute gestört wird. Auch wenn ich wie gelähmt war, setzte ich mich dennoch in Bewegung. Noch einmal rief ich „He!“ und „Hilfe!“ und „Loslassen!“. Doch der Mann ließ nicht ab. Die Gier fesselte ihn an seine Beute. Je näher ich kam, desto entschlossener wirkte er, seine Beute zu verteidigen. Ich war vielleicht noch zehn Meter entfernt, da überkam mich auf einmal der Mut meines Vaters. „Lass sie los, du missratenes Arschloch!“, brüllte ich, dabei die Hand zur Faust geballt. Der Mann starrte mich an. Doch da lag keine Gier mehr in seinen Augen, sondern nur noch blankes Entsetzen darüber, erwischt worden zu sein. Mit einem Satz war er auf den Beinen und schon im nächsten Moment in den Büschen verschwunden.

Die Frau lag bewusstlos auf dem kalten Moosboden. Neben ihrem Kopf ein Tuch, getränkt mit einer Flüssigkeit, die mir ätzend in die Nase stieg. Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, beugte ich mich über sie, streichelte ihren Arm und flüsterte ihr dabei leise ins Ohr, dass alles gut werden würde. Im Fernsehen hatte ich einmal gesehen, wie ein bewusstloser Mensch Mund-zu-Mund beatmet wird. Aus lauter Verzweiflung, sie irgendwie am Leben zu erhalten, tat ich das Gleiche. Oder besser gesagt, wollte das Gleiche tun, denn gerade in dem Moment, wo meine Lippen die ihren berührten, öffnete sie ihre Augen. Sie schrie. Ich schrie. Wir beide so laut, dass zwei Männer, die wohl gerade auf dem Weg zur Arbeit waren, auf uns aufmerksam wurden. Sie kamen herbei geeilt. Die Frau versetzte mir einen Schlag ins Gesicht. Ich war starr vor Entsetzen, glotzte sie nur ratlos an, ohne mich bewegen zu können. Dann waren die Männer auch schon bei uns. Der eine riss mich von der Frau weg, der andere drückte mich zu Boden. „Du dreckiges Schwein!“, schrien sie und prügelten dabei wahllos auf mich ein. Ich begann zu schreien und zu weinen. Ganz so, wie damals in der Schule. Nur, dass diesmal keine Lehrerin kam, um mich zu retten. Stattdessen zog der eine sein Handy und nur wenige Augenblicke später hörte ich die Sirene. Durch die Bäume schimmerte Blaulicht. Reifen quietschten. Türen schlugen. Und dann sah ich auch schon die zwei Polizisten den Weg hochjagen. Oben angekommen, bot sich ihnen ein schreckliches Bild. Ich blutüberströmt im Gewahrsam der beiden Männer. Die Frau halb benommenen mit zerrissener Bluse am Boden kauernd. Beide Polizisten hatten ihre Waffe auf mich gerichtet. „Ist das der Kerl?“ Die Frau nickte. „Auf frischer Tat ertappt“, rief einer der beiden Männer, wobei er seinen Würgegriff noch etwas fester zog. Im nächsten Moment klickten Handschellen und ich wurde zum Auto gezerrt. Ich versuchte etwas zu sagen, aber mir war die Kehle wir zugeschnürt. Auf der Wache steckten sie mich in eine Arrestzelle mit einem kleinen vergitterten Fenster. Ich schaute hinaus. Die Sonne stand bereits am Himmel. Die Welt war erwacht.

Die Gerichtsverhandlung konnte ich kaum erwarten, denn ich hatte große Hoffnung, dort endlich meine Eltern wieder zu sehen. Von der Anklagebank aus schaute ich mich um. Viele fremde Menschen waren dort versammelt, aber meine Eltern sah ich nicht. Doch zu meiner großen Überraschung war meine Lehrerin gekommen. Sie saß ganz in der Nähe des Opfers. Bitterkalt war ihr Blick. So kalt, dass ich wohl in Gefrierstarre gefallen wäre, hätten mich nicht die Worte des Richters aus ihrem Bann befreit. „Ich kann sie nicht verstehen“, sagte dieser, jetzt schon sichtlich genervt, „sie müssen langsam und deutlich sprechen.“ Es war der Sprachfehler. Es war der Kopfsturz, kurz nach meiner Geburt. Ich konnte klar denken, aber ich konnte das, was ich zu sagen hatte, nicht in Worte fassen. So viel Mühe ich mir auch gab, immer klang es, als hätte ich einen Lappen im Mund, der mich zu allem Übel auch noch wie ein Hund sabbern ließ. Doch der herauslaufende Speichel war mir egal. Diesmal musste es klappen. Diesmal hing mein Leben davon ab, mir Gehör zu verschaffen. Buchstabe um Buchstabe half ich der Wahrheit zur Welt, ganz langsam, ohne sie beschädigen. Ich redete und redete. Und ich hätte wohl immer weiter geredet, hätte mich der Richter nicht irgendwann jäh unterbrochen. „So kommen wir nicht weiter“, hörte ich ihn raunen. Und dann etwas lauter: „Gibt es denn hier wirklich niemanden, der diesen Mann versteht?“ Ich blickte verzweifelt hoch zu meiner Lehrerin. Meine Lehrerin blickte ins Leere. Totenstill war es im Saal. Dann erteilte man meinem Verteidiger das Wort.

Schon seit etwas mehr als vier Monaten sitze ich nun in meiner Zelle und schreibe. Ich schreibe über den Teich, weil es das Einzige ist, was mich hier in der Dunkelheit am Leben hält. Aber ich kann nicht vom Teich schreiben, ohne an diesen schrecklich Tag zu denken, an dem man mich aus dem Paradies vertrieben hat. Ich schreibe auch darüber. Ich bringe jedes Detail zu Papier, an das ich mich erinnern kann. In der Hoffnung, dass irgendwann Mama und Papa alles lesen werden. Sie werden vorbeikommen, sie werden es lesen und sie werden mir glauben. Und dann werden sie der ganzen Welt erzählen, dass ihr Sohn nichts Schlimmes getan hat. Sie werden mich hier herausholen und ich werden sie mitnehmen an den Teich. Dann werden wir uns alle drei gemeinsam auf die Bank setzen. Wir werden uns an den Händen halten und alles wird gut sein.

Der Block ist nun voll. Und wie immer, wenn der Block voll ist, kommen die Wächter und nehmen ihn mir ab. Sie versprechen, ihn aufzubewahren, doch ich weiß, dass sie ihn wegschmeißen. Sie nehmen ihn mir weg und ich schreie so lange, bis sie mir einen neuen Block bringen. Den schreibe ich auch voll. Ich schreibe von dem Teich, von meinen Eltern, von meiner Schule und von dem Tag, an dem ich aus dem Paradies vertrieben wurde. Meine Eltern werden es lesen und alles wird gut.


© AB


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Kommentare zu "Teichleben"

Re: Teichleben

Autor: noé   Datum: 18.07.2014 22:25 Uhr

Kommentar: Was für ein ergreifender Text! Er fängt so "harmlos" an und entwickelt dann sehr schnell eine Sogwirkung vom Allerfeinsten. Ich bin sehr beeindruckt und - ja - ergriffen. Das ist ein Text, den man nicht so schnell vergisst und gehört mit Gewissheit zu den besseren hier im Forum. Hut ab!
noé

Re: Teichleben

Autor: Ree   Datum: 18.07.2014 22:37 Uhr

Kommentar: Du hast dem sehr schmerzhaften Inhalt eine tiefe, zärtliche Schönheit verliehen, Benni .., so als ob sich darin Liebe mit Schmerz stets verbinden würde. Es berührt mich sehr.

Liebe Grüße,
Ree

Re: Teichleben

Autor: agnes29   Datum: 18.07.2014 23:22 Uhr

Kommentar: Ich finde alles so furchtbar traurig es muß dir doch jemand helfen und dir immer wieder zuhören.
Ich wünsche dir alles gute.Liebe Grüße Agnes

Re: Teichleben

Autor: Benni   Datum: 19.07.2014 18:58 Uhr

Kommentar: Vielen Dank den Kommentatoren (sagt man Kommentatoren?), es ist natürlich immer schön zu hören, wenn das, was man in eine Geschichte hineinlegt, auch bei den Leuten ankommt. Viele Grüße, Benni

Re: Teichleben

Autor: Evia   Datum: 24.08.2015 8:57 Uhr

Kommentar: Ein Teichleben in den Jahreszeiten ...
Es berührt

LG
Evia

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