Ich bin die Geehrte / und die Verachtete.
Ich bin die Dirne / und die Ehrbare.
Ich bin die Frau / und die Jungfrau.
Ich bin die Mutter / und die Tochter.
Ich bin die Glieder meiner Mutter.

[...]

Ich bin das Schweigen, / das unerreichbar ist,
und die Einsicht, / an die vieles in der Welt erinnert.
Ich bin die Stimme, / die viel Lärm verursacht,
und der Logos, / der viele Abbilder hat.

[...]

Ich bin nämlich das Wissen / und die Unwissenheit.
Ich bin die Scham / und die Offenheit.
Ich bin schamlos, / und ich bin beschämt.
Ich bin Stärke, / und ich bin Furcht.

[...]

Ich aber bin die, die in allen Ängsten lebt, / und ich bin die Kühnheit unter Zittern.
Ich bin die, die hier schwach ist, / und doch bin ich unversehrt am Freudenort.
Ich bin unverständig, / und ich bin weise.

[...]

Ja, ich bin die Weisheit der Griechen / und die Erkenntnis der Barbaren.
Ich bin das Gesetz der Griechen / und der Barbaren.
Ich bin die, die viele Bilder in Ägypten hat / und die kein Bild bei den Barbaren hat.
Ich bin die, die überall gehasst wurde, / und die, die überall geliebt wurde.
Ich bin die, die man das Leben nennt, / und doch habt ihr mich den Tod genannt.
Ich bin die, die man das Gesetz nennt, / und doch habt ihr mich die Ungesetzlichkeit genannt.
Ich bin die, die ihr gesucht habt, / und ich bin die, die ihr ergriffen habt.

Ich bin die, die ihr zerstreut habt, / und doch habt ihr mich eingesammelt.
Ich bin die, vor der ihr euch geschämt habt, / und doch wart ihr schamlos vor mir.

[...]

Ich bin der Verstand derer, die verstehen / und die Ruhe dessen, der schläft.
Ich bin die Erkenntnis, zu der das Fragen nach mir führt, / und das Finden für die, die nach mir suchen, und der Befehl für die, die mich bitten.

[...]

Ich bin die Vereinigung / und die Auflösung.
Ich bin das Bleiben, / und ich bin das Lösen.
ich bin das Herabkommen, / und man wird zu mir hinaufkommen.
Ich bin das Gericht / und die Vergebung.

Ich, ich bin sündlos, / und doch stammt die Wurzel der Sünde von mir.
Ich bin die Begierde beim Anblick; / und doch wohnt die Beherrschung des Sinnes in mir.


© Hiram Abif


4 Lesern gefällt dieser Text.



Unregistrierter Besucher


Beschreibung des Autors zu "Nag Hammadi Codex VI - Der vollkommene Verstand - Sophia"

Auszug aus den koptischen Handschiften der Nag Hammadi Codices.
Hier Codex VI, das Lied der Sophia (Weisheit) oder auch der Seele aus der Schrift "Der Donner: der vollkommene Verstand".

Es beschreibt den Zwiespalt ihrer Existenz zwischen der als schlecht empfundenen materiellen Welt und ihrer göttlichen Abkunft.

Zur Erklärung: Die Nag Hammadi Codices sind eine antike Sammlung koptisch-gnostischer Apokryphen und sonstiger Schriften. Gefunden wurden sie in den Jahren 1945/46 - 1948 nahe der ägyptischen Stadt Nag Hammadi.
Heute sind sie im koptischen Museum der Festung Babylon nahe Kairo zu sehen.
Sie stellen die bedeutendsten Schriftzeugnisse zur Erforschung der gnostischen Religion und koptischen Sprache dar.

Der Auszug stammt aus dem (sehr guten) Buch von Kurt Rudolph "Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion" 1. Auflage 1977, 90 - 91. Inzwischen erschien es bereits in der 4. Auflage. - Der Übersetzer des Textes ist mir leider nicht bekannt.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Nag Hammadi Codex VI - Der vollkommene Verstand - Sophia"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Nag Hammadi Codex VI - Der vollkommene Verstand - Sophia"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.