Es war einmal ein Knabe, der musste sich ganz allein, ohne Eltern, Geschwister und Freunde durchs Leben schlagen. Wie er in den Wald gelangt und welches Schicksal seiner Familie widerfahren war, wusste er nicht oder hatte es im Laufe der Zeit vergessen, vielleicht auch verdrängt. All seine Erfahrungen sammelte er mit Rehen und Raben, die ihm Lehrmeister und Freunde waren. Die Rehe hatten eher die Rolle der Freunde inne, die klugen Raben aber die der Lehrer. Die zierlichen Waldvöglein wie das neckische Hörnchen weckten in ihm den Sinn für das Reine, das Schöne; der Huflattich kündete ihm verlässlich den Frühling an, die Herbstzeitlose mahnte vor dem nahenden Winter, den Winter selbst erkannte er am Schnee und an der nagenden Kälte, den Sommer erahnte er wohl.
Er war bitterarm und unermesslich reich zugleich. Sein Gemüt - zu seinem Glück nie durch Unterricht und belehrendes Buchwissen zu Schaden gekommen – war, wie sollte es anders sein, schlicht und unverdorben, wobei ihm das Schlichte – die Einfalt des Denkens den größten Nutzen in der Einsamkeit des finsteren Tanns brachte. Brach dann der Abend an, setzte sich der Bub auf einen bemoosten Baumstrunk, stützte sein müdes Haupt in seinen Händen auf und dachte über das Leben nach – über seines und über das Leben ganz allgemein. Was ihm da alles durch das Köpfchen ging, wie viele Fragen sich in dieser Abgeschiedenheit aufwarfen.
So sinnierte er, wie die marxistisch-leninistische Doktrin je Einzug in rigide forstökologische Realitäten finden könnte? Wie der monetäre Charakter rein hypothetischer Strukturanalysen in absehbarer Zeit zumindest im Ansatz reziproke Realität zum dominierenden Output der schleimpilzzentrierten Welt-Idee schaffen sollte? In besonders heimeligen Stunden, wenn die Zilpzalpe ihr Abendlied anstimmten und die Ringeltauben ihm gurrend eine gute Nacht wünschten, ja, in solchen Momenten gingen ihm lebenswichtige, überlebenswichtige Gedanken durch den Kopf. So zermarterte er sein Hirnchen, wie Spinoza seine Traktate aus dem niederländischen Gedankengut so erfolgreich an die jungen deutschen Literaten geistig vererben konnte. Kleinigkeiten, aber für einen Waiesenknaben im Wald das Um und Auf.
So, durch simple Gedanken, die wie Schäfchen über eine gefallene Fichte sprangen, in wohltuenden Schlummer versetzt, schlief der Knabe bald ein und träumte von Raben und Rehen und in besonders schönen Nächten auch vom einfachen Leben in den Städten dieser großen Welt da draußen.


© ingo.baumgartner


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Kommentare zu "Das gar seltsame Märchen vom eremitischen Waisenknaben"

Re: Das gar seltsame Märchen vom eremitischen Waisenknaben

Autor: Uwe   Datum: 20.12.2014 3:50 Uhr

Kommentar: Ein oberfeines, gutes Märchen! Danke.

Re: Das gar seltsame Märchen vom eremitischen Waisenknaben

Autor: ingo.baumgartner   Datum: 20.12.2014 6:24 Uhr

Kommentar: Danke dir auch, Uwe!

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