>Das Meer bringt uns mit seinen Wellen die
wundersamsten Dinge.<
Sie sprach, ohne dabei zu ihm aufzuschauen. Er
setzte sich ebenfalls in den Sand und verfolgte den
Blick seiner Großmutter hinaus aufs Meer. Es war
ein milder Tag und er wusste, dass dies nicht immer
so war in ihrem Leben. Zufrieden streckte sie ihre
langen Beine aus und lehnte sich zurück. Sanfte
Wellen umtänzelten ihre Füße. Er betrachtete sie
und es schien ihm, als hätte sie diese Gelassenheit
ein Leben lang in sich aufgesogen. Sie war noch
immer schön – jetzt weißhaarig mit vielen kleinen
Fältchen und Lachfalten. Sie schaute ihn mit ihren
warmen, blauen Augen an und er sah die Sehnsucht
des Meeres. Erst jetzt bemerkte er, dass
irgendetwas anders sein würde.
>Erzählst du mir eine Geschichte?< Er lauschte
immer noch so gerne einer ihrer
Meeresgeschichten, die sie ihm als kleinem Jungen
erzählt hatte, wenn er in den Ferien bei ihr am Meer
war. Inzwischen hatte er selbst schon einiges erlebt
– die Abenteuer gesucht. Immer wieder kehrte er
gerne zurück hierher ans Meer – diesmal zu ihrem
Jubiläum. Sein Leben war ständig in Bewegung und
auch heute war er recht aufgewühlt.
Erwartungsvoll schaute er sie an. Lächelnd wandte
sie sich ihm zu: >Du würdest besser daran tun,
nicht so viel von mir zu erwarten, dann kannst du
die Geschichte vielleicht besser verstehen.<
Versonnen schaute sie wieder aufs Meer. >Oder,
vielleicht bist du inzwischen auch schon viel zu
erwachsen, um sie zu verstehen – dies wäre jedoch
wirklich schade.<
Er seufzte und dachte bei sich, dass es ältere
Menschen wohl immer an sich haben, den jüngeren
irgendeine Weisheit vermitteln zu wollen – und
auch seine Großmutter schien da leider keine
Ausnahme zu sein, obwohl er dies gerne hätte.
Immer schon fing sie ihre wunderbaren Geschichten
mit einer Weisheit an, die uns Kinder stets
ungeduldig von einer Pobacke auf die andere
rutschen ließ. Und auch diesmal war er wieder
ungeduldig – obwohl ihm seine letzte Reise geprägt
hatte, dass Ungeduld ihm sehr schaden kann. Ihr
jedoch wollte er dies heute, hier und jetzt nicht
eingestehen.
Das Meer schwappte leise und er folgte ihrem Blick
zum Leuchtturm. Klar und deutlich zeichnete sich
die abendliche, violette Silhouette ab. Mit ihrer
dunklen Stimme begann sie zu erzählen:
>Es gab einmal eine junge Stadtfrau, die immerzu
Urlaub auf einer Insel oder zumindest am Meer
machte, denn das Meer gab ihr stets neue Hoffnung
und Kraft. Ständig wollte sie ihr Leben verändern
und war von einer ihr nicht erklärbaren inneren
Unruhe und Ungeduld geprägt. Am Meer
verschwand diese Ungeduld für gewöhnlich, jedoch
die Sehnsucht blieb in ihr. Auf einem ihrer
ausgedehnten Strandgänge, wo sie abermals die Zeit
mit Muschelsuchen, Dichten und Nachdenken über
den Sinn des Lebens verbrachte, glitzerte ihr
plötzlich ein kleiner Stein entgegen. Blitzschnell
streckte sie die Hand aus und ergriff ihn, bevor das
Meer ihn wieder mit sich nahm. Sie öffnete
neugierig ihre Hand und war enttäuscht, dass es nur
ein klitzekleiner gelblicher Stein war. Mit
gekräuselter Stirn und einer ungestümen Geste
wollte sie den Stein zurück ins Meer werfen – doch
sie hielt inne und setzte sich in den Sand, um ihn
genauer zu betrachten. Etwas sagte ihr, in diesem
Stein, in seinem Innern, liegt eine besondere
Bedeutung. Ohne zu wissen wieso, nannte sie ihn
den „Stein der Veränderung". Seltsam berührt und
etwas wehmütig schaute sie nun ihren Stein an und
bedauerte, dass ihre Zeit der Veränderung noch
nicht gekommen war.
In diesem Moment wusste sie nicht, dass sie irrte,
denn im gleichen Moment, als sie dem Stein seinen
Namen gab, hatte die Veränderung schon
stattgefunden – doch dies konnte sie erst Jahre
später erkennen.
Da eine Veränderung ihrer Meinung nach nicht
möglich war, begnügte sie sich damit und gab dem
Stein noch einen weiteren Namen, den „Stein der
Gelassenheit". Ihren Liebsten wollte sie an dieser
Gelassenheit auch teilhaben lassen und schickte ihm
diesen kleinen unscheinbaren Stein in einem Brief
mit inniger Liebe und viel Sehnsucht.
Als dieser nun den Stein erhielt, freute er sich sehr,
betrachtete ihn liebevoll und gab ihm seine eigene
Bedeutung mit dem Namen „Stein der tausend
Sterne". Er spürte ihre Liebe und seine Sehnsucht
nach ihr schnürte ihm die Kehle zu, da er zugleich
wusste, dass er diese Liebe für einige Zeit loslassen
musste um seinen eigenen Weg zu finden.
Er versteckte seinen Stein an einem sicheren Ort in
einem kleinen Beutel und hütete ihn wie einen
großen Schatz – diesen kleinen unscheinbaren Stein.
Wochen später, nachdem sie heimgekehrt war,
sagte er ihr, dass er mit ihr ins Ausland gehen
wolle. Sie erwiderte, dass ihre Zeit der
Veränderungen noch nicht gekommen sei und er
allein reisen müsse. Auch wenn er sie nicht loslassen
wollte und sein Herz brannte, war er ihr dankbar
für ihre Worte, denn er begriff, dass er nur allein
seinen Weg finden konnte.
In den nächsten Wochen machte er sich eifrig und
mutig an die Reisevorbereitungen. Ungewollt
zweifelte er zwischendurch immer wieder an seiner
Entscheidung. Die Verabschiedung erfolgte nicht
ohne das Versprechen auf ein bald mögliches
Wiedersehen – sie möge so schnell als möglich
folgen. Eigentlich hatten beide mit einer
schmerzvollen Abschiedsszene gerechnet, aber sie
war innerlich ruhig und lächelte ihn nur mit einer
tiefen Gewissheit an. Dankbar lächelte er zurück
und machte sich auf die Reise.
Viele Briefe erreichten sie im Lauf der Jahre aus
allen Ecken der Welt und berichteten ihr ausführlich
von dem Erlebten. Sie waren gekennzeichnet von
der Suche und der Sehnsucht nach dem Sinn des
Lebens. In keinem dieser Briefe fand sie jedoch seine
Antwort darauf. Von Ort zu Ort sei er gezogen,
und immer dann, wenn er dachte, er hätte sich und
seine innere Zufriedenheit gefunden, zog es ihn auch
schon wieder magisch weiter und er machte neue
schmerzvolle und auch schöne Erfahrungen. Manche
Fehler machte er ein zweites Mal in seinem Leben –
von manchen wunderbaren Erlebnissen berichtete
er und von der Hoffnung, auch ihr in seinem Leben
ein zweites Mal zu begegnen.
Der Winter war vorbei und der Frühling bemühte
sich gegen die noch kalten Luftströme
hervorzukriechen. Sie legte die Briefe beiseite und
träumte ein wenig von den vergangenen Zeiten. Sie
hatten sich immer gesagt, sie wollten im Hier und
Jetzt leben, jeden Tag genießen und hoffnungsvoll in
die Zukunft schauen. Sie bemerkte, dass es an der
Zeit war, ihren eigenen Wünschen einen Namen zu
geben. Ihre Kinder waren schon lange erwachsen
und auch die Enkelkinder waren schon aus dem
Hause.
Von ihrem Liebsten hörte sie unendliche Zeit nichts
mehr. Sie kämpfte lange mit sich und ging dann
ihren eigenen Weg. Sie zog ans Meer und erfüllte
sich damit einen Teil ihrer Wünsche. Sie erkannte
sich, übte sich in Gelassenheit und genoss die
Freiheit des Geistes. Sie liebte die Weite des Meeres
und die vielen verschiedenen Geschichten, die es ihr
erzählte.
Sie lebte nun einen Teil ihres Lebens so, wie sie es
sich schon als junge Frau gewünscht hatte und
erfreute sich an den vielen Glücksmomenten, die
das Leben ihr gab. <
Die Sonne senkte sich hinter dem Leuchtturm und
er schaute sie staunend an – dies war kein normales
Märchen und irgendwie kam ihm alles bekannt vor.
Seine Großmutter hielt inne und schaute ihn an.
Lächelnd fuhr sie fort: >Jahre später erhielt sie
einen Brief, der geprägt war von innerer
Zufriedenheit und Gelassenheit. Er schrieb ihr, dass
er eines Tages einen jungen Mann getroffen habe,
der ungestüm und voller Ungeduld war, seine
vermeintlichen Schätze hortete und nicht loslassen
konnte. Lange hätten sie beide abends bei einem
guten Glas Wein die Gedanken ausgetauscht und
zum Abschied habe er ihm den „Stein der tausend
Sterne" geschenkt. Erleichtert hätte er festgestellt,
dass er jetzt endlich ganz bei sich war. Der junge
Mann aber habe den Stein argwöhnisch eingesteckt
und ihn mitleidig belächelt. Wahrscheinlich wird er
mich in seinen Erzählungen als einen geistig etwas
verwirrten, älteren Mann bezeichnen, der ihm auf
seiner Reise kluge Weisheiten vermitteln wollte,
schrieb er.
Der Stein der Veränderungen war also wieder
unterwegs, dachte sie beruhigt und legte den Brief
beiseite. Nun verstand sie den Sinn des Steines und
konnte zufrieden ihre letzten Tage genießen.
>Hier endet nun heute diese Geschichte. Wir
sollten langsam hineingehen und die anderen mit
unserer Gegenwart erfreuen!<
Er betrachtete seine Großmutter und konnte den
Mund vor Staunen nicht mehr schließen. Aufgeregt
kramte er in seiner Tasche und zog einen kleinen
Beutel hervor.
>Dies hier hat mir ein älterer Mann in Valencia
gegeben – mit der Bemerkung: „Übe dich in
Gelassenheit und erwarte nichts.“ Er erzählte mir
eines Abends viel von seinen Reisen, den
Verwirrungen der Gefühle und den Irrwegen des
Seins. Er lehrte mich meine Ungeduld zu zügeln und
die Dinge aus den verschiedensten Blickwinkeln
ohne Wertung zu betrachten und mich vor
voreiligen Schlüssen zu hüten. Ich habe ihn für mich
den „Stein der Abenteuer" genannt."<
Überrascht lächelte sie und nahm den Stein
versonnen in die Hand. Soso, dachte sie, es ist nun
also Zeit zu gehen. Sie stand auf. Fragend schaute er
ihr in ihre leuchtenden Augen.
>Behalte ihn<, sagte sie, >es ist deiner und ich
brauche ihn nicht mehr. Du wirst noch viel Kraft
und Geduld für Veränderungen benötigen, die dich
immer dann überraschen werden, wenn du denkst,
du seist angekommen<. Ernst schaute er sie an:
>Aber was wirst du nun machen? <
Zufrieden lächelnd legte sie ihre Hand auf seinen
Arm und er spürte die Wärme in ihrer Stimme:
>Ich lasse die letzte Veränderung in meinem Leben
zu und gehe dorthin, wo dein verwirrter alter Mann
ist. <

©Norma Refle-Waskowsky


© Norma Refle-Waskowsky


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Hier einmal eine meiner liebsten Kurzgeschichten!

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