Bruno hat jetzt in einem kleinen Kreis zugegeben, dass er, Bruno, sich schon seit längerem um arge gesellschaftliche Verwerfungen sorge. So habe er an nur einem einzigen Tage seinem lokalen Presseorgan eine Reihe von Meldungen entnehmen müssen, die in ihrer Vielzahl und in ihrer Tiefe und Dichte als schlimme Warnzeichen für die derzeitige Entwicklung der Gesellschaft überhaupt interpretiert werden müssten. Es sei, so Bruno, fahrlässig, ja grob fahrlässig gar, solche Anzeichen zu ignorieren und darauf zu verzichten, ihnen auf den Grund zu gehen.

Auf den Hinweis eines Umsitzenden, er möge doch einmal einige Beispiele anführen, die die Plausibilität seiner Befürchtungen besser dokumentieren als eine allgemeine Feststellung, wies Bruno auf die 53. Ausgabe des 65. Jahrganges seiner täglichen Lokalzeitung hin und listete folgende Meldungen der Reihe nach auf:

Bei einer Großkontrolle im Bereich eines naheliegenden Autobahnkreuzes wurden 211 PKW, 59 LKW und 379 Personen kontrolliert. Man stellte 18 Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, eine Urkundenfälschung sowie 6 Verstöße gegen das Waffengesetz fest. Außerdem seien 2.600 Zigaretten beschlagnahmt worden und in 16 Fällen standen Autofahrer unter dem Einfluss von Drogen. Außerdem hatte ein Kleintransporter neben Altkleidersäcken noch einen Mann mit einem gefälschten polnischen Personaldokument auf der Ladefläche, der sich dort versteckt gehalten habe.

An anderer Stelle sei ein Ingenieur wegen Steuerhinterziehung angeklagt worden. Auch sei ein Ladendieb mit Parfüm im Wert von 1400 Euro nach einer Verfolgungsjagd durch die Innenstadt festgenommen worden.

Ein LKW habe einen geparkten PKW am Heck beschädigt, der LKW-Fahrer sei flüchtig. Ein Mofafahrer sein untenherum unbekleidet gewesen, habe in der Hand eine Unterhose geschwenkt und sich einer Passanten unsittlich gezeigt.

Dieses alles, so Bruno, seien nur die Verstöße gegen Recht und Gesetz in näherem Umkreis und nur an einem einzigen Tag. Hinzu kämen alle Unregelmäßigkeiten, die unentdeckt geblieben seien. Wenn man diese Untaten auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland hochrechne, so müsse man zweifelsfrei von gesellschaftlichen Verwerfungen sprechen, gegen die unbedingt etwas unternommen werden müsse, führte Bruno aus.

Er werde sich nicht mehr beirren lassen. Er gehöre nicht zu denen, die mit den Schultern zucken und sich für unzuständig erklärten. Es sei Aufgabe jedes einzelnen Bürgers, in seinem Bereich und mit seinen Mitteln einzuschreiten. Auch wenn man brav und ehrlich seine Steuern zahle, habe Bruno ausgeführt, auch dann könne man nicht alles den Behörden überlassen. Er, Bruno, wolle sich nicht eines fernen Tages selbst die Frage stellen, ob er etwas versäumt habe. Und wenn eines Tages sein Enkelkind ihn frage, wo er Bruno, damals gewesen sei, als noch Halt hätte geboten werden können, dann wolle Bruno mit reinem Gewissen dastehen und eine stolze Antwort geben.

Gleich morgen werde er, Bruno, die erste Maßnahme ergreifen und das Abonnement der Tageszeitung aufkündigen.


© Rolf Kirsch


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