Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der düsteren Bahnhofshalle in München. Ab und an war ein leises Quietschen zu vernehmen, wenn die Stahlräder der Waggons eine Weiche passierten. Die Bahnsteige waren leer gefegt, bis auf einen Mann in einem grauen Mantel. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug hinterher, dessen rote Schlusslichter nun rasch kleiner wurden.
Wie oft er schon hier gestanden hat, wusste er nicht mehr. Seit sie ihn vom Dienst suspendiert hatten, war er jede Nacht auf diesem Bahnsteig aufgetaucht, um dem Nachtzug hinterherzusehen. Es war sein Ritual, so wie bei fremden Völkern Tiere oder Menschen geopfert wurden, um die Götter milde zu stimmen. Ob die Urvölker es in diesen Tagen auch noch so hielten, interessierte ihn nicht. Sein Leben, seine Liebe, galt immer der Eisenbahn, ihr hatte er einst sein Dasein gewidmet, alles geopfert, ohne Wenn und Aber. Damals, vor 23 Jahren vier Monaten und fünf Tagen, war er zum allerersten Mal auf seine Lokomotive geklettert, seine Lok, seine erste große Liebe. Unsicher und schüchtern, wie ein junger Galan, war er im Führerhaus mit den vielen Hebeln und Schaltern gestanden, hatte zärtlich über das blitzende Chrom gestreichelt und zur Lok gesprochen: »Werden wir es schaffen? Werde ich immer alles richtig machen?« Die Verantwortung wog schwer auf seinen damals jungen Schultern. Es war aber keine Angst dabei, vielmehr Respekt, der ihn nach bestandener Lokführerprüfung achtsam und zärtlich hantieren ließ. Mona Lisa, so taufte er seine rot-weiße E-Lok, der Baureihe 1046, weil sie, so schien es ihm jedenfalls, immer geheimnisvoll lächelte, wenn er zur Arbeit erschien. Die Ausbildung zum Lokführer war nicht einfach gewesen. Oft wurden ihnen, wenn im stickigen Seminarraum ihre Augen vor Müdigkeit zufallen wollten, Bilder von schweren Zugunglücken gezeigt, um ihre Aufmerksamkeit zu schärfen. Je nach Bauart der Lok und Anzahl der Waggons konnte rasch ein Gesamtgewicht von über 100 Tonnen erreicht werden, hatten die Ausbilder mehr als einmal vermittelt. Und dass ein voll beladener Zug einen extrem langen Bremsweg hat, wurde ihnen regelrecht eingetrichtert, als ob sie das nicht gewusst hätten. Ein kühler Wind strich über ein müdes, von Narben zerfurchtes Gesicht und trieb den Rauch der Zigarette in zwei ausdruckslose Augen.
»Bist du das, Kurt?«
Der Fahrdienstleiter schlenderte auf den Mann im grauen Trenchcoat zu, der mit tief ins Gesicht gezogenem Hut am Bahnsteig stand und rauchte.
»Wer sonst, glaubst du, steht um diese Uhrzeit auf diesem Bahnsteig«, antwortete eine müde Stimme.
»Wirst du es nicht leid, jeden Tag, bei jedem Wetter, hier am Bahnsteig zu stehen und der 1046 nachzusehen, dieser alten Mühle. Das bringt doch nichts, Kurt.«
»Sprich nicht in diesem Ton von ihr!« fauchte der Mann und drehte sich ruckartig um.
»Ist ja gut, entschuldige. Komm mit, ich spendiere dir ein Bier.«
»Danke, ich trinke nicht mehr ... schon lange nicht mehr«, drang es gebrochen durch die Rauchwolke.
»Oh, tut mir leid, ich vergaß«, sagte der Fahrdienstleiter verlegen und nestelte an seiner Mütze herum. »Ich muss die Zwölfer Weiche stellen, wenn du Lust hast, kannst du ja später noch im Dienstzimmer vorbeischauen. Wir trinken einen Tee und quatschen ein wenig.»
»Vielleicht.«
»Ist gut.«
Der Mann in Uniform entfernte sich mit raschem Schritt, verfolgt von einem wehmütigen Blick. Der Fahrdienstleiter hatte ja recht, mit dem was er sagte. Die Wunden würden nicht heilen, auch wenn er bis ans Ende seiner Tage hierherkommt, um sich zu entschuldigen. Wie viel war eigentlich noch übrig von seiner Mona Lisa? Wie viele Teile waren erneuert, ersetzt worden? Eine Träne kullerte Kurt Förster über die Wange. Unzählige dieser feuchten Dinger, die einen 48-Jährigen zu einem traurigen Kind verkommen lassen, waren in den letzten drei Jahren geflossen. Begleitet von Fragen und Selbstvorwürfen: Warum habe ich mich betrunken ins Führerhaus gestellt? War es Stolz? Falscher Ehrgeiz? Selbstüberschätzung? Nie würde er die Schreie der Menschen vergessen, die in jener regnerischen Nacht hinten in den Waggons um ihr Leben bangten. Jeden Tag verfolgten ihn diese zahllosen blauen Lichter, der Funkenflug der Schneidbrenner, die Kommandos der Hilfskräfte, die wie Kanonenschüsse durch die Nacht hallten. Jeden Tag hörte er das Zischen und Fauchen in Mona Lisas Maschinenraum und jeden Tag sah er in seinen Träumen, wie ihr Blut schwarz und zähflüssig aus ihrem Herzen quoll. Seine Verletzungen waren nur marginal gewesen. Prellungen, Hautabschürfungen, Schnittwunden. Ein Sprung nach hinten, in Mona Lisas schützenden Schoß, hatte ihm das Leben gerettet. Als plötzlich diese Kurve auf sie zuraste, war es zu spät, seine Reaktion diente nur mehr der eigenen Rettung. Vierzehn Menschen hatten dieses Unglück nicht überlebt. Die Gesichter der Toten raubten ihm seither den Schlaf und trieben ihn jede Nacht auf diesen Bahnsteig, um zu büßen.
Förster warf seine brennende Kippe auf den Bahnsteig, trat sie aus und kickte sie zwischen die Gleise. Er saugte noch den typischen Geruch einer Bahnstrecke ein, der irgendwo zwischen Terpentin und Teer lag, dann schlug den Mantelkragen hoch und verließ langsamen Schrittes den Bahnhof. Ohne einen Tee zu trinken, ohne genug gebüßt zu haben und ohne Hoffnung auf Vergebung. Morgen würde er wieder am Bahnsteig 3 stehen und seiner Mona Lisa nachsehen, wenn sie beinahe geräuschlos aus der Halle gleitet. Und ihre roten Schlusslichter werden wieder in der lang gezogenen Kurve vor dem Bahnhof verschwinden. So wie in dieser Nacht, so wie die vielen Nächte zuvor ... Kurt Förster würde sein Ritual weiter zelebrieren, ohne je zu erwarten, dass die Götter, die Toten, deren Angehörige oder Mona Lisa ihm verzeihen. Er trat aus dem Schatten des Vordaches und blickte zur riesigen Uhr an der Glasfassade des Haupteingangs hoch. Es war kurz vor zwei Uhr morgens. Der Novembernebel war dicht und hüllte den Vorplatz in gespenstische Stille. Zwei Fahnen hingen bewegungslos an ihren Masten, der Abgang zu U-Bahn Station lag in einem grauen Meer. Förster zog eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie an. Irgendwann würde er seine Schuld mit ins Grab nehmen.


© Alfred Stadlmann


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Beschreibung des Autors zu "Der Nachtzug war sein Schicksal"

Dies ist eine von "Neun dunkelgrauen Kurzgeschichten" aus meinem eben auf Amazon erschienen Kurzgeschichtenband. Vielleicht bekommt ihr ja Lust auf die restlichen acht Geschichten über Schicksale und Verwirrungen die das Leben so schreibt.

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