Das Blatt fällt. Es dreht und wendet sich als würde es zu einer für jedermann unhörbaren Musik tanzen. Es setzt seinen Flug fort und der Wind gibt ihm noch einmal einen letzten Aufschwung, sodass es den Boden nur eine Sekunde lang streift und mit einer eleganten, ja fast spielerischen Pirouette wieder in den Himmel aufsteigt. Man könnte meinen, der Himmel habe sich verletzt, wie das tiefrote Blatt nun, einem Blutstropfen gleich, zu Boden schwebt. Als würde die Zeit unendlich länger vergehen, während die Welt den Atem anhält, aufgrund dieser Offenbarung der Verletzlichkeit des Himmels. Ohne zu tanzen sinkt es hinab. Und als es den Asphalt berührt, gleicht es einem Donnerschlag, während die Sonne hinterm Horizont versinkt und die Dunkelheit hereinbricht. In diesem Moment landet eine Träne auf dem purpurnen Blatt und ein Zittern durchfährt es, als hätte es die Schmerzen gespürt, die diese Träne verursacht haben. Nun liegt es da, dieses Ahornblatt mit einer Träne auf seinem Herzen. Niemand kümmert sich darum, niemand fragt sich, was könnte diese Träne verursacht haben. Die letzten Menschen hasten vorbei, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie haben eigene Probleme. Sie sehen das Mädchen auf der Parkbank nicht, das sich nun die Tränen abwischt. Ein aufmerksamer Beobachter hätte vielleicht das kurze Aufblitzen des Metalls gesehen, doch es ist niemand da. Ein kalter Windstoß erfasst ein letztes Mal die Blätter am Boden, wirbelt sie auf und bringt sie zum Tanzen. Sie drehen, wenden und überschlagen sich, tollen herum wie Kinder, wie von einer teuflischen Freude gepackt. In ihrem Rausch verhüllen sie die Bank wie ein roter Schwarm. Nur ein Blatt tanzt nicht mit. Es liegt immer noch an dem selben Platz und die Träne auf seinem Herzen gleicht einem Diamanten, in dem sich das grausam schöne Schauspiel widerspiegelt. Um es herum gehen die anderen Blätter hernieder. Der Wind hat sich gelegt. Der letzte Blutstropfen fällt zu Boden. Das Mädchen sitzt noch immer auf der Bank. Um sie herum ist die Welt in Purpur getaucht und sie lächelt. Es war ein schöner Abend und die ersten Sterne funkeln auf sie herab. Ein rotes Ahornblatt liegt auf ihrem Schoß. Auf ihm ein Blutstropfen. Der Erste.


© Dschinnija


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