Es war einmal ein Punkt. Der war sehr unglücklich. Schließlich war er der kleinste zwischen allen großen Buchstaben und Zeichen. Dass er ganz unten auf der Tastatur so ein Schattendasein führte, das hätte er ja noch ertragen. Doch alle anderen Buchstaben, die wurden wenigstens mal groß geschrieben. Er aber blieb immer der Kleine. Die anderen Buchstaben und Zeichen nahmen ihn wohl auch nicht für voll. Erst wenn sie geschrieben waren, dann durfte er am Schluss stehen. Was da vor dem Punkt stand, das sollte ein Satz sein. Na ja, ein Punkt sieht das ganz anders.

„Ich will nicht immer am Schluss stehen“, niemand hörte ihn rufen.
„Haaallloooooo, hört mich da oben jemand?“, keiner antwortete.
Peng, da knallte schon wieder ein Finger auf ihn herab und er fand sich oben im Bildschirm wieder. Wo? Natürlich wieder am Schluss eines langen Satzes. Alle Buchstaben kleine und große waren schon vor im dort gewesen.
„Wie immer: Ich muss mich wieder hinten anstellen“, schon war er wieder vergessen. Er drückte sich ganz nah links an das „n“ heran. Rechts zog es gewaltig kalt über das Leerzeichen. So ein Ding, das da sein soll, und das man gar nicht sieht. Und ein Stückchen weiter schaute er an der kalten hohen Front des großen „E“ herauf. Doch auch das schaute nur in die Richtung der anderen Buchstaben, die munter hintereinander aufs Blatt purzelten. Wo er sich auch umschaute: Über ihm Buchstaben und auch unter ihm wieder welche. Man sah ihn nicht, man hörte ihn nicht. Doch was ihn ganz besonders bekümmerte: Man las ihn nicht einmal. Das hatte ihn auch früher immer schon so traurig gemacht. Alle Buchstaben durften sich zusammenschließen, wurden Wörter und dann gelesen, ja manchmal sogar laut vorgelesen. Er hörte sie und wartete, dass man endlich auch ihn entdeckte. Doch da senkte sich die Vorlesestimme nur, holte tief Luft, übersah ihn und las weiter.

In diesem unscheinbaren Leben, da waren die Kinder noch seine liebsten Leser. Sie zogen sogar manchmal mit dem Finger die Zeile entlang und machten gerade bei ihm Halt. Während sie eine richtige Pause machten, spürte er die kleine Fingerkuppe, wie sie zart auf ihm ruhte. Er fühlte sich dann richtig wohl.

„Na und, geht es nicht weiter?“, forderte die Stimme auf. Und der kleine Finger verließ ihn wieder. Es wurde kalt. Er, der kleine Punkt, das Pünktchen zwischen den vielen, vielen Buchstaben blieb wieder alleine zurück. Da fühlte er sich noch kleiner als er ohnehin schon war.

Trotzdem war er nicht alleine. Es gab ja viele andere Punkte, die sein Schicksal teilten. Und am besten ging es denjenigen, die das Glück hatten, in einem der vielen Bücher zu landen. Da kamen wenigstens nicht so ein Kursor und die Löschtaste, um ihn wieder verschwinden zu lassen. Wo er gewesen war und hoffte weiter zu
kommen, stand dann plötzlich ein Komma. Auch so ein armer Wicht aus der Nachbarschaft auf der Tastatur. Da wünschte er sich auch schon einmal, dass er vielleicht ein Doppelpunkt werden könne. Doch daran war nicht zu denken. Also mit der Löschtaste, das ging ja noch. Von früher wusste er, dass ein Punkt, der einmal auf einem Schreibmaschinenblatt gelandet war, so einen fürchterlichen Radierstift treffen konnte. Unter dem wurden seine Vorfahren ganz schrecklich zerrieben. Da ging es ihm wenigstens in dieser Hinsicht besser. Doch in ein Buch zu kommen, das war sein ganzer Traum. Wer als Punkt dort gelandet war, der hatte es geschafft. Er war zwar immer noch einer der kleinsten, aber er hatte seinen Platz. Manchmal, wenn er das noch größere Glück hatte, in einem Kinderbuch zu landen, wurde er sogar von einer zarten Fingerkuppe gestreichelt.

Dort in einem Kinderzimmer, so erzählt man sich unter den Pünktchen, soll einmal so ein Kinderbuchpunkt abends spät laut gerufen haben.

„Haallllooooo, bist du noch wach?“
„Ja“, soll es leise geflüstert haben, „wer ruft denn da?“
„Ich, dein Pünktchen.“
Und plötzlich riefen alle andern kleinen Pünktchen im Buch oben auf dem Regal.
„Hier sind wir, wir sind ganz viele.“
Und sie flüsterten weiter:
„Wir wollen auch noch nicht schlafen. Es ist hier zwischen den Buchdeckeln so dunkel.“

Unten raschelte die Bettdecke und der Schalter der kleinen Wandlampe machte klick. „Könnt ihr schon was sehen?“, fragten die Pünktchen, die eingeklemmt ganz nahe am Buchrücken standen.
Von vorne leise zurück:
„Also bei dem einen Eselsohr, da kommt ein wenig Licht herein. Jetzt werden wir sicher gleich geholt“.
Die Buchstaben blieben stumm. Sie hatten es nicht nötig, sich zu unterhalten. Schließlich wurden sie ja gelesen, manchmal sogar laut. Früher hatten sie es wohl mal probiert. Aber da war so ein Durcheinander. Es waren ja so viele unterschiedliche Buchstaben. Schließlich hatten sie es aufgegeben.
Nur die Punkte, die sprachen eine gemeinsame Sprache und konnten sich verstehen. In solchen Minuten wie jetzt, da waren sie ganz stolz auf diese Fähigkeit. Sie waren zwar klein, aber sie konnten etwas, was die anderen nicht konnten.

„Hallo, wo seid ihr denn jetzt?“, und plötzlich wurde es bei den Punkten hell, denn das Buch wurde aufgeklappt.
„Hier sind wir, zwischen den Sätzen.“
„Fang an zu lesen, dann entdeckst du uns. Hinter jedem Satz haben wir uns versteckt.“
Der kleine Finger wanderte schnell über die Zeilen und hielt bei jedem Punkt an.
„Da bist du ja, du Kleiner. Warum habe ich dich früher nur übersehen?“
„Das weiß ich auch nicht, vielleicht weil wir so klein sind. Und weil alle glauben, dass wir nichts zu sagen hätten?“
„Aber ihr habt mich doch gerufen“, und der Finger glitt zum nächsten Pünktchen.
„Ja, wir sprechen ja auch nur mit anderen kleinen Leuten, die wenigstens mal mit dem Finger über uns hinwegstreichen.“
Plötzlich öffnete sich die Türe des Kinderzimmers, und eine laute Stimme rieft:
„Jetzt mach aber mal einen Punkt! Du sollst doch schlafen! Morgen ist Schule!“
Schnell klappte das Buch zu, es wurde dunkel bei den Punkten, und sie flüsterten:
„Habt ihr das gehört? Jetzt rufen auch die Großen, dass man einen Punkt machen soll. Vielleicht werden wir ja doch noch groß.“
Das Licht verlöschte, und die Türe wurde zugezogen.
„Haaalllooooo, schlaft ihr schon da oben?“
„Nein, Du?“
„Ich auch nicht. Aber ihr müsst jetzt oben bleiben. Morgen ist Schule.“
„Holst du uns denn mal wieder? Du sollst doch auch mal einen Punkt machen.“
„Aber klar, ihr seid doch meine kleinen Freunde - versprochen.“

Bei den Pünktchen erzählt man sich seitdem, dass es Kinder gibt, die geben sich in der Schule besondere Mühe, wenn sie einen Punkt schreiben. Denn die Kleinen, die kennen sich manchmal ganz gut. Sie sind ja schließlich gute Freunde.


© Gerhard Falk


2 Lesern gefällt dieser Text.


Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Nun mach mal einen Punkt!"

Re: Nun mach mal einen Punkt!

Autor: Blue   Datum: 30.08.2011 17:24 Uhr

Kommentar: Die kleinsten Dinge sind manchmal die wichtigsten. Man sollte sie nicht als unwichtig betrachten. Für dich mach ich ganz viele Punkte.............;-) ;-) ;-)

Re: Nun mach mal einen Punkt!

Autor: Gerhard Falk   Datum: 30.08.2011 18:23 Uhr

Kommentar: Danke!

Kommentar schreiben zu "Nun mach mal einen Punkt!"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.