Ist schon verdammt lang her. Unsere gemeinsame Hochzeit. Und bis zur silbernen haben wir nur noch Monate. Längst verstehen wir uns blind, ja, sogar taub.
Schon seit Jahren, können wir die Gedanken des jeweils Anderen hinter dessen nicht mehr faltenfreier Stirn lesen.
Ja, unsere Verständigungsfähigkeit geht weit über das hinaus, was so genannte Spiegelneuronen vermögen.
Natürlich verläuft unser Leben vorwiegend in lieb gewordenen und gewohnten Bahnen. Gelegentlich gar in Achterbahnen. Gut angeschnallt, versteht sich. Sind ja nicht mehr die Jüngsten, um täglich Sensationen zu verkraften. Im Gegenteil. Manche (zumeist ungewollte) Veränderung löst Ängste aus. Doch auch im Alter will schließlich niemand als Feigling gelten.
Und genau das verführt uns nicht selten dazu, bei älteren, ebenso alten und sogar jüngeren Freunden und Bekannten damit zu protzen, welche Abenteuer wir uns noch zutrauen.
Und besonders alte Freunde neigen zum Glück auch zu viel Verständnis.

Gerade aus Urlauben, die wir nach sicherem Flug unterwegs mit einem sicheren Neuwagen in ausschließlich ungefährlichen Gegenden Europas verbringen, erzähle ich gern von Landungen, bei denen im allerletzten Moment doch noch das Fahrwerk ausgefahren werden konnte. Vom älteren Leihwagen, bei dem auf abschüssiger Strecke plötzlich die Bremsen versagten. Und wie es mir gelang, die alte Kiste mutig auf eine steil ansteigende Nebenstraße zu lenken, so dass der Wagen in diesem Steilstück langsamer wurde und ich ihn mit der Handbremse kurz vor der nächsten abschüssigen Strecke zum Stehen brachte. In einem der letzten Urlaube im unwirtlichen Nordwesten Griechenlands blieb unser Auto plötzlich nachts in einer Haarnadelkurve unmittelbar über dem Abgrund mit Motorschaden liegen. Mitten in einem Naturpark, in dem noch wilde Bären und Wölfe leben.
Äußerst einfühlsam ergänzt Eva meine selbst mir den Atem raubende Erzählung. Ich sei todesmutig an den Straßenrand gegangen, um den riesigen großen Bären zu verscheuchen. Der wäre erst gewichen, als ich mich drohend vor ihm aufbaute, Eva auch ausgestiegen sei und wir die Bestie gemeinsam wild gestikulierend anbrüllten.
Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich bei meinen Protzereien manchmal wie ein pubertierender Jüngling. Das ist mir zwar peinlich, gibt mir aber zugleich jenes Gefühl von Jugendlichkeit, das so unglaublich viele Glückshormone ausstreuen kann.
Immerhin laden unsere Freunde und Bekannten uns gern ein. Gerade weil wir so spannende Geschichten zu erzählen wissen. Und das ist allemal spannender als ein Fernsehabend oder mehrere Runden Doppelkopf.
Neulich waren wir bei Doris und meinem ältesten Freund Bernd. Beide leben gut von seiner Beamtenpension. Bernd hält sich für einen begnadeten Witze-Erzähler und lacht über eigene Witze besonders laut, vor allem über seine Beamtenwitze. Wegen seiner Neigung, die besonderen Lacherfolge zu wiederholen, kennen wir diese Witze längst alle.
„Wer nicht über sich lachen kann, ist ein bedauernswertes Geschöpf.“ Betont Bernd zwischendurch immer einmal wieder. Und ebenso häufig, hebt er hervor, er gehöre nicht zu jenen Beamten, die verlegt worden wären. Er sei in seiner Beamtenlaufbahn immer versetzt worden. Übrigens: Beamtenlaufbahn gebe es natürlich nicht. Sei eher ein Schleichweg. Und schon kann Bernd sich wieder bis zu plötzlich auftretenden Schweißausbrüchen halbtot lachen.
Immer wenn wir uns bei ihm und seiner Frau in den Urlaub verabschieden, fragt er unwillkürlich, ob wir denn auch gut versichert seien. Er selbst bucht nur vollkommen durchorganisierte Bildungsurlaube.
Doris hat meiner Frau schon heimlich gestanden, wie gern sie einmal allein mit uns einen richtigen Erlebnisurlaub machen würde.
Doch Bernd hält umgehend und zu unserem Glück dagegen: „Wenn du deine Freunde verlieren willst, mache Urlaub mit ihnen.“
Er und Doris besuchten uns genau nach jenem Erlebnisurlaub, der uns in den wilden Nordwesten Griechenlands geführt hatte.
Wir bedauerten außerordentlich, dass wir nicht geistesgegenwärtig genug gewesen waren, jenen Bären zu fotografieren.
„Es war ja Nacht.“
Eva nickte. „Und wer weiß, wie das Riesentier auf Blitzlicht reagiert hätte?“
Bernd lachte. „Abgehauen wäre der.“
Doris sah von ihrem Sessel zu mir hinauf, da ich gern, wenn meine Erzählungen besonders spannend wurden, aufstand. „Und du hast den einfach so angebrüllt?“
„Ja, klar, was hätte ich denn sonst machen sollen. Ohne Waffe. Mit bloßen Händen auf ihn losgehen?“
Bernd fiel dazu weder ein Beamtenwitz noch eines seiner geflügelten Worte ein. Besorgt fragte er, ob denn, falls das Tier mich verletzt hätte, meine Krankenkasse dafür eingetreten wäre.
Ich schüttelte den Kopf. „Meinst du, ich denke, wenn ich der Bestie ins Augen sehe, an meine Krankenkasse?“
Eva rückte mit ihrem Stuhl zu Doris. „Weißt du woran mein Mann gedacht hat?“
Doris beugte sich vor. „Vermutlich an gar nix. In solchen Situationen handeln doch selbst Männer intuitiv.“
Eva bekam feuchte Augen. „An mich hat er gedacht. An mich und wie er mich retten kann.“
Jetzt wurden auch Doris Augen feucht. „Meiner wäre mitten in der Nacht überhaupt nicht aus dem Auto gestiegen. Hätte höchstens per Handy ein Abschleppunternehmen angerufen. Aber wir machen sowieso immer nur Bildungsurlaub. Und in Museen und alten Kirchen gibt es weder lebende Bären noch Wölfe.“
Bernd stöhnte auf „Aber Taschendiebe. Am meisten klauen die im Petersdom im Vatikan.“
Eva blickte mich herausfordernd an.
Sofort legte ich los: „Da ist uns neulich ein Ding passiert. In Griechenland wird ja kaum geklaut. Aber in Italien.“
„In Pisa, neben dem schiefen Turm.“ ergänzte Eva. „Da laufen die Schwarz- Afrikaner in Massen rum und wollen dir gefälschte Rolex-Uhren andrehen.
„Ich nickte heftig. „Mich hat so einer in ein Verkaufsgespräch verwickelt, während ein anderer hinter mir stand, um mir das Portemonnaie aus der Hosentasche zu ziehen.“
Eva hob ihren Arm. „Pass auf, hab ich noch geschrien. Da hatte der schon zugelangt und wollte wegrennen. Geistesgegenwärtig wie mein Mann sein kann, drehte er sich blitzschnell um, packte den Schwarzen. Der war bestimmt einen Kopf größer. Hielt ihn am T-Shirt fest.“
„Ja,“ sagte Bernd. „Wo kommen wir denn hin, wenn man die Kleinkriminellen einfach machen lässt.“
Eva zuckte mit den Schultern. „Der Schwarze ließ das Portemonnaie fallen und haute ab.“
„Und? Keine Polizei da? In Italien haben die doch für alles Polizisten.“
Ich schüttelte den Kopf. „Sind doch im Grunde alles arme Schweine. Flüchtlinge aus Afrika. Wären da wahrscheinlich verhungert.“
Eva lächelte. „Man muss im Alter eben auch großzügig sein können. Das erfordert die Altersweisheit.“
Bernd erhob sich grinsend von der Couch, blieb vor mir stehen und raunte mir leise zu: „Früher war ich auch so’n Angeber. Aber du kannst schon toll erzähln, mein Lieber.“
„Was tuschelt ihr denn da?“ wollte Doris wissen.
„Ach, nichts!“
Und sofort stand mir Eva bei: „Auch Männer brauchen ihre Geheimnisse…“


© Karl Feldkamp


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Beschreibung des Autors zu "Verständnisfülle"

Männer geben gern mit bestandenen Abenteuern an. Andere bevorzugen Sicherheiten. Meistens spielen die dazugehörigen Frauen mit...

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