Die 2-Zimmer-Erdgeschoss-Wohnung mit Wohnküche hatte Helga bezogen, nachdem ihr Mann vor 6 Jahren gestorben war. Auf dem Esstisch standen ein Glas-Ascher, Streichhölzer von Aldi und eine halbe Packung Roth-Händle ohne Filter.

Neben Zigarettenqualm kam aus Helgas Wohnung der Duft von leicht modrigen Polstermöbeln, die 25 Jahre Ehe und hüpfende Kinder hinter sich hatten. Andre und Mathias kamen seit dem Tod ihres Vaters jeden Sonntag zum Essen. Das war der einzige Besuch, den die alte Dame bekam. An diesen Tagen duftete es im ganzen Haus nach Helgas Schmorbraten.

Jeden Morgen lehnte sich Helga mit vor der Brust verschränkten Armen aus dem offenen Küchenfenster und beobachtete das Treiben, während das Zwitschern der Wellensittiche Otto und Elsbeth auf die Straße hinaus schallte. Bei jeder Gelegenheit motzte Helga wild gestikulierend und mit kratzbürstiger Raucherstimme drauf los. So teilte sie dem Achtjährigen, der auf dem Gehweg zur Schule fuhr, mit, dass dies hier kein Radweg sei und er zusehen solle, dass er von seinem Drahtesel runterkommt und der Mutter, die Ihre Tochter vor der Schule raus lassen wollte, wurde vorgeworfen, den Verkehr aufzuhalten, ob sie denn ihren Führerschein im Lotto gewonnen hätte.

Auch bei den Nachbarn war die Dame sehr unbeliebt. Sobald man das Treppenhaus betrat, stand sie oft schon in der Tür, motzte über das Baby aus dem ersten Stock, das dauernd weinte, erzählte den Studenten der WG im 3. Stock, sie sollten Ihren Biomüll nicht in die Restmülltonne schmeißen und den Zehnjährigen aus dem 2. Stock fuhr sie an, weil er morgens immer von der vorvorletzten Stufe auf die Ebene sprang, wodurch ein lauter Knall das ganze Haus wach rüttelte.

Abends schlief Helga häufig vor dem Fernseher ein, dessen Lautstärke so reguliert war, dass die Familie im ersten Stock die Dialoge vom Tatort oder Rosamunde Pilcher mit verfolgen konnten.

Die meisten Menschen, die an Helgas Küchenfenster vorbei gingen, sahen ein vom Leben gezeichnetes Gesicht, das bratzig durch eine Scheibe glotzte. In meiner Erinnerung gibt es nur einen Moment, in dem Helga gelächelt hatte. An einem Nachmittag im April, als das graubraune Elend des Winters vom Frühlingsgrün langsam vertrieben wurde, hatte ich auf dem Heimweg ein paar Buschwindröschen gepflückt. Zu Hause angekommen saß Helga an ihrem Küchenfenster, beobachtete mich mit garstigen Augen und atmete gerade eine Rauchwolke aus, als sie die Blumen entdeckte. Irgendwas veränderte sich in diesem Augenblick in ihren Zügen, die deutlich sanfter wurden. Ich hielt eine der Blumen zum Fenster hoch, lächelte sie an und sagte irgendetwas wie: „Schön, dass es endlich Frühling wird, nicht wahr?“. Daraufhin nahm sie mir mit einem freundlichen Lächeln die Blume ab und erzählte mir, dass sie oft in kindlicher Vertiefung im Wald gespielt und dabei jegliches Zeitgefühl verloren hatten. Zu Hause war ein Riesendonnerwetter zu erwarten, weshalb Helga dann einen Blumenstrauß pflückte oder die Taschen voll mit süßen Blaubeeren packte, um sich bei der Mutter für die Saumseligkeit zu entschuldigen.

Die griesgrämige Helga war einmal dieses lebensfrohe Mädchen gewesen, dem von ihrer verbissenen Gebieterin an diesem Nachmittag einen Augenblick lang Freigang gewährt wurde.

Heute Morgen hatte ich voller Wut gegen die Tür gehämmert, weil aus ihrer Wohnung das Frühstücksfernsehen durch den ganzen Hausflur schallte. Geschimpft hatte ich, dass sie endlich das Scheißding ausmachen solle. Die vorbeigehenden Nachbarn stimmten mir zu, dass die Alte nicht mehr ganz dicht sei, über jeglichen Lärm was zu motzen hatte, selber allerdings keinen Deut besser zu sein schien.

Nun saß ich hier am Fenster, auf dem Tisch lag eine halbe Packung Roth-Händle ohne Filter, die Streichhölzer von Aldi und der halb volle Glas-Ascher. Draußen flackerte das Blaulicht des Krankenwagens, der die ganze verdammte Straße blockierte. Elsbeth und Otto zwitscherten vor sich hin und im Wohnzimmer hörte ich die Stimme des Notarztes, der lediglich noch den Tod der alten Dame feststellen konnte, den Wagen jedoch immer noch nicht aus dem Weg hatte fahren lassen. “Kannten Sie die Frau Meier?“. Ich zündete mir eine von Helgas Zigaretten an, während der Polizist meine Daten aufnahm. Sechs Jahre hatten wir in einem Haus gewohnt, sechs Jahre hatte die alte Frau ihrem Frust freien Lauf gelassen.

„Nee“, antwortete ich und verkniff mir, zu erklären, dass Helga aufgrund ihrer Unausstehlichkeit immer alleine gewesen war und ich jetzt auch eigentlich mal langsam zur Uni musste.


© Leonie Catharina Blank


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Beschreibung des Autors zu "Helga"

Die griesgrämige Helga war einmal dieses lebensfrohe Mädchen gewesen, dem von ihrer verbissenen Gebieterin an diesem Nachmittag einen Augenblick lang Freigang gewährt wurde.

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