Dort, wo das Gletschereis noch leuchtet,
wo Gipfel in den Himmel ragen
dort lag, am Fuß des mächt'gen Berges,
ein kleines Dorf, seit ew'gen Tagen.

Die Kirche, fest aus Stein gemauert,
die Häuser eng am Waldesrain.
Und die Abendglocken klingen,
weit ins tiefe Tal hinein.

Der Wildbach rauscht durch tiefe Schluchten,
es tobt und braust der Wasserfall.
So manche Gams an Bergeshängen,
stürzt von der Wand im Büchsenknall!

Im letzten Haus, dort auf der Höhe,
geduckt an einer Felsenwand
da ward eine junge Mutter,
sterbenskrank ans Bett gebannt.

Der Körper zuckt in starken Krämpfen,
der Schmerz verrenkt die müden Glieder.
Des Nächtens, voll von bösen Fratzen,
ruft sie den einen Namen wieder.

Sie ruft den Namen ihres Liebsten,
in den rauen Abendwind.
Er liegt dort oben in den Bergen,
sie ist allein mit ihrem Kind.

Der kleine Knabe, er kniet weinend,
vor dem Bett im Kerzenschein.
Wischt den Schweiß von ihrer Stirne
"niemals lass ich dich allein!"

Er erinnert sich, was einmal,
seine Ahnl ihm hat erzählt.
Dass hoch oben, in den Wänden,
ein rotes Edelweiß dort steht.

Diese Blume sei ein Zauber,
bringe Glück in aller Zeit.
Noch niemand hat sie je gefunden,
sie blüht nur, wenn die Glocke läut'!

"Mutter," sagt der kleine Knabe,
"ich geh beim ersten Morgenschein!
Ich hole dir die Zauberblume,
wir werden wieder glücklich sein!"

Die Sterne funkeln noch am Himmel
selbst auf den Gipfeln ist noch Nacht.
Da hat sich der kleine Knabe,
auf den weiten Weg gemacht.

Die knorrig' Äste alter Lärchen,
greifen nach ihm wie Geisterhand.
Und ein unheilvolles Stürmen
wehte über Felsenwand.

Dort, am Horizont, den fernen,
grüßt ein dunkles Wolkenmeer!
Und der Sturm steigt aus den Schluchten,
mit ihm kommt hoch ein Geisterheer!

Streichen um des Knaben Körper,
nebelhaft im Sturmgeschrei.
"Oh, Vater, hilf," so rief der Knabe,
"so eile doch zu mir herbei!"

Seine Hand umklammert kraftlos,
den dicken Ast der alten Kiefer.
Doch als die kleine Hand sich öffnet,
da fällt er tief und immer tiefer.

Als wär'n die Geister nun besänftigt,
im Morgenrot die Bergeswelt.
Und unten liegt der kleine Körper,
an einer Felsenwand zerschellt!

Nach Tagen wurde er gefunden,
in einer Schlucht voll Schnee und Eis.
Da hielt er in seinen Händen,
ein blutig rotes Edelweiß!

Und wenn nun dort im stillen Tale,
sich ein Kindlein holt Gevatter Tod.
Dann blüht, hoch in den steilen Wänden,
ein Edelweiß, so blutig rot!



by suedwind


© August Zinser


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Kommentare zu "Das rote Edelweiß"

Re: Das rote Edelweiß

Autor: Suedwind   Datum: 26.10.2013 23:44 Uhr

Kommentar: Danke! Danke vielmals! Da gibt es kein Video.......leider...

Re: Das rote Edelweiß

Autor: Varia Antares   Datum: 15.03.2014 2:01 Uhr

Kommentar: Traurig, aber wunderschön!

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