Langsam laufe ich den langen, dunklen Korridor, der sich vor mir erstreckt entlang. Meine Finger streichen dabei sanft über die Türen, welche sich aus dem Boden erhoben haben und nun die beiden Wände rechts und links von mir zieren. Unter meinen Fingern spüre ich jeden Splitter. Jeder einzelne bohrt sich in meine Haut und fordert so mein Blut auf, über meine Hände zu rinnen. Auf den Türen hinterlassen sie dann eine dunkelrote Spur. Doch ich merke es kaum. Auch die fast schwarzen Spuren über und unter meinen sehe ich nicht. Unbeirrt laufe ich weiter an den großen, kleinen, schmalen und breiten Türen vorbei. Sie alle haben unterschiedliche Farben, doch es interessiert mich nicht. Mein Blick starr geradeaus in das Dunkle vor mir. 678, 679, 680 zähle ich murmelnd, als ich an den Türen vorbei gehe und dabei meine Spur hinterlasse. Ich drehe meinen Kopf nicht einmal zu Seite. Denn ich weiß, wenn ich ihn einmal drehen würde, wäre ich für immer verloren. Meine Schritte hallen durch den Korridor, doch das ist mit meinem Murmeln das einzige Geräusch in der Dunkelheit. 698, 699, 700 flüstere ich weiter. Meine Beine schmerzen und meine Augen fangen an zu tränen, da sie von der Dunkelheit erschöpft sind. Ich bin müde. So unglaublich müde, dass ich jetzt auf der Stelle einschlafen könnte. Doch ich darf nicht nachgeben. Ich darf mich nicht der Müdigkeit, der Erleichterung nachgeben. Ich muss stark bleiben. 710,711,712 und meine Augen fallen kurz zu. Erschrocken reiße ich sie wieder auf, doch zu spät. Meine eigenen Füße werden zu einem Hindernis und ich falle auf die Knie. Nein, nein, nein! Ich muss weiterzählen. Darf nicht aufhören. „Steh auf! Steh auf!“, schreit mein Inneres mir verzweifelt zu. Am liebsten würde ich hier sitzenbleiben, doch ich kann nicht. „Steh auf! Steh auf!“, schreit es weiter. Langsam erhebe ich meinen Kopf um in die Dunkelheit vor mir zu starren. Doch wie immer kann ich nichts sehen. Ich drehe meinen Kopf ein Stück zur Seite und schiele dabei zu den Türen links von mir. „Steh auf!“, flüstert meine Innere Stimme nur noch, denn sie ist genauso neugierig wie ich. Unter dem Türschlitz glitzert ein wenig Licht hindurch, aber so wenig, dass man es im Vorbeilaufen nicht sehen kann. Auch auf meiner rechten Seite sehe ich das glitzern in meinem Augenwinkel. Es lockt mich zu sich. Wie ein kleiner Schatz aus alten Zeiten. Wie kleine Diamanten und funkelnde Sterne. Umso länger ich hinschaue, desto größer wird die Versuchung meine Hand nach dem Licht auszustrecken. 55, 56, 57 zähle ich die Sekunden, die bereits vergangen sind. Das Zählen von den unterschiedlichsten Dingen beruhigt mich. Es hält mich davon ab die Kontrolle über mich zu verlieren. Das ist auch der Grund weshalb ich wieder auf stehe. Langsam. Mein Kopf nach vorne gerichtet und doch erinnere ich mich an das Glitzern. Es lockt mich immer noch zu sich. Ich verliere gegen die Vernunft, welche mir sagt, ich soll weitergehen und die Türen im endlosen Korridor weiterzählen. Ich gebe meinem inneren Widerstand nach und drehe meinen Kopf langsam in Richtung der bunten Tür, welche mich zu sich ruft. Ein leises Flüstern, dass mir alles verspricht, was ich begehre. Die mir den Himmel auf Erden verspricht. Als mein Blick auf die Tür trifft, keuche ich auf und drehe mich zu der gegenüberliegenden Tür um. Doch auch diese lässt mich zurücktaumeln. Ich möchte fort von hier. Also renne ich. Renne diesen dunklen Weg vor mir entlang, um dem Schrecken um mich herum zu entkommen. Türen 723, 724,725 und fortlaufend, lasse ich hinter mich und stürze in das Ungewisse vor mir. Kann ich das Gesehene vergessen? Kann ich vergessen, was auf den Schildern stand, welche die Türen geschmückt haben? Noch während ich renne und mir meine Tränen in Bächen meine Wange entlanglaufen, weiß ich, dass ich nicht entkommen kann.
Woher ich das weiß?

Ich bin in meiner persönlichen Hölle. All meine Sünden, all meine Erinnerungen, Erlebnisse und Ängste liegen hinter diesen Türen. Dieser Korridor ist mein persönliches Gefängnis, dass mich nie wieder frei lässt, weil ich vergessen habe, wo der Schlüssel zu meiner Freiheit ist.


© Violet E.


3 Lesern gefällt dieser Text.


Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher


Beschreibung des Autors zu "Himmel auf Erden"

Schau nach vorn, sonst verlierst du dich in deinen Ängsten.

Violet E.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Himmel auf Erden"

Re: Himmel auf Erden

Autor: Karl Hausruck   Datum: 01.04.2021 8:22 Uhr

Kommentar: Es groovt!
LG Karl

Re: Himmel auf Erden

Autor: Violet   Datum: 03.04.2021 12:36 Uhr

Kommentar: Viele lieben Dank Karl :)

LG Violet E.

Kommentar schreiben zu "Himmel auf Erden"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.