Helen steht im Bademantel am offenen Fenster, eine Tasse in der Hand. Sie sieht den vorbeihastenden Berufsleuten zu. Den Pensionierten, welche vom Morgenspaziergang zurückkehren. Den Schulkindern, welche sich an der Ecke treffen. Entdeckt blühende Tulpen, die defekte Laterne, auf die Strasse gestellte Möbel. Irgendwo klingelt ein Wecker.

Sie schliesst ihre Augen. Manchmal genügt der geringste Anlass, das unscheinbarste Wort, der kleinste Raum, um wunderbare Geschichten aufsteigen zu lassen. Ins Reich der Fantasie zu tauchen, die Gedanken auf Reisen zu schicken, in weite Ferne.

Jetzt gerade überlegt sie, welche Schlagzeile sie gerne lesen möchte. Welchen Koffer sie auf eine Kreuzfahrt mitnehmen würde. Weshalb nach der Rückkehr gleich der Alltag wartet. Weil wir es uns wünschen?

Warum finden im Frühjahr so viele Feierlichkeiten und Umzüge statt? Meist an einem Montag? Um die Feststimmung in die Woche zu retten? Fasnacht, das Zürcher Sechseläuten, Morgestraich in Basel – kleine Fluchten aus dem Alltag?

Sie trinkt den Kaffee, beschliesst wieder ins warme Bett zu kriechen. Heute hat sie frei, ist erster Mai.


© Buch "Jede Woche neu - die Poesie des Montags", 2008


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