Du spürst dumpf, aber hart das vom Regen klamme Holz der Sitzbank. Es drückt etwas unangenehm auf Lenden und Oberschenkel. Das Bedürfnis aufzustehen und ein paar Schritte umherzugehen plagt dich. Du bleibst sitzen.
Kühl umspielt der feuchte Wind deine von Dornen verkratzen nackten Knöchel. Das noch immer herabtropfende Blut sinkt langsam in den sandig, erdigen Boden. Während du der Sonne zusiehst, wie sie sich schwermütig zum Horizont hin senkt, versuchst du dich zu erinnern. Deine ruhigen Gedanken wandern zwischen altem und neuem, schmerzvollem und schönem, grauem und farbenfrohem. Du lächelst.
Jeder Atemzug führt dich, stets begleitet von einer leichten Wolke aus Dunst, weiter hinein in dich selbst und weiter weg vom dumpfen Druck der Bank auf das was du deinen Körper nennst. Deine Gedanken werden schneller.
Dein Geist kann nur wenige der aufkommenden Begriffe erfassen. Vage Zusammenhänge, wie Spinnweben; jeder Windstoß, der deinen mittlerweile weit entfernten Körper streift, zerreißt auch das filigrane Netz an Eindrücken, Gefühlen und Erinnerungen. Immer wieder versuchst du die wenigen greifbaren Assoziationen zusammenzuführen. Es ist ein fairer Tausch: Körper gegen Geist. Du hast dein materielles Sein vergessen.
Begriffe, gefestigt in Eis, beginnen durch die neue Geisteswärme zu tauen. Bald passiert ein Rinnsal an Erfahrungen die ausgetretensten Wege deiner Vorstellung. Du beginnst dich zu erinnern.
Ein Bach, ein Fluss, dann auch ein Strom an Bildern, Geräuschen, Gerüchen. Wellen von unermesslicher Größe bäumen sich auf und ergreifen dein wehrloses inneres Auge. Stetig wärmer, hitzig, werden deine Gedankengänge. Aufsteigender Dampf der nun heißen Erinnerungschnellen füllt bald deinen gesamten geistigen Raum. Du erinnerst dich.
Splittern, dann stechender Schmerz. In Sekundenbruchteilen manifestiert sich dein Geist in seinem altbekannten Körper. Du rennst los in die eisige Nacht und folgst dabei jener Spur aus dunkelrotem Blut, das mittlerweile unter der bereits zurückliegenden Sitzbank eine dunkle Lache gebildet hat.
Tränen streifen deine Wangen und hinterlassen brennende Kälte. Im fahlen Mondschein beginnen vereinzelt herabfallende Regentropfen zu glänzen. Nach einer Weile beginnt der zunehmende Regen die Spur aus Blut zu verwaschen. Du rennst schneller.
Mit jedem Schritt wiegt deine schon völlig durchnässte Kleidung schwerer, dein Atem pfeift laut durch die sonst Stille Landschaft. Die schwarz-rote Spur, der du so sehnsüchtig folgst, ist kaum noch zu erkennen. Hastig stolperst du entlang der wenigen verbleibenden Tropfen.
Abermals reißt dich ein unbarmherziger Schmerz aus deinem Fokus. Pechschwarze Rosen schlingen sich um deine Fußgelenke. Prasselnder Regen hat nun endgültig alle Spuren verwischt. Der Mondschein verliert sich in der Tiefe der Nacht und das letzte, das du wahrnimmst, ist wie ein angenehm warmes und hellrotes Rinnsal deinen schmerzenden Fußrücken hinabfließt.


© 2020, Enigma


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