Er blieb stehen.
Alle anderen waren schon weiter gegangen und schwiegen – genau wie er. Nur konnte er noch nicht gehen. Langsam kniete er sich hin und starrte durch den dünnen Tränenvorhang vor sich. Das Grab des verstorbenen Familienmitglieds war heute geschlossen worden. Gleich würde im Anschluss die Trauerfeier stattfinden. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken daran.
Er wusste nicht, dass sich in dem Moment als er dachte sich ernsthaft übergeben zu müssen, eine Person aus der Gruppe löste und zurück lief. Als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, hob er den Kopf mit mittlerweile von Tränen überlaufenem Gesicht.
Sie stand in ca einem Meter Entfernung zu ihm und schaute ebenfalls stumm auf das Grab. Zum ersten mal seit den letzten Tagen regte sich tatsächlich etwas in ihm. Schwerfällig kam er wieder auf die Füße und musste sich kurz konzentrieren, da ihn ein kurzer Schwindel überkam. Dann wandte er sich zu Layla.
Sie löste ihren Blick und schaute ebenfalls mit Tränen in den Augen zu ihm hin. So standen sie dort mehrere Minuten und schwiegen einander an.
„Hat er das gewusst?“ Ihre Stimme war so leise, dass er sie im ersten Moment überhaupt nicht verstand.
„Nein... Ich habe da nur mit meiner Mutter drüber geredet, wenn ich ehrlich bin. Es ging nicht besonders viele Menschen etwas an, wenn du mich fragst. Ja, eigentlich nur uns.“
Sie nickte schweigend, schaute nochmal zum Grab, während sie tief Luft holte.
„Ich glaube wenn ich mich ganz recht erinnere weiß bis heute niemand aus meiner Familie Bescheid. Hatten ja selbst einen Trauerfall, wie du weißt.“
Ihre Augen suchten etwas in seinen. Sie fand es tatsächlich noch...
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie merkte, dass er ebenfalls einen kleinen Schritt in ihre Richtung tat. Dann ging sie offensichtlich auf ihn zu, blieb ein paar wenige Zentimeter vor ihm stehen.
„Wie viele Fehler macht ein Mensch im Leben im Durchschnitt? Weißt du das?“
Er konnte sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen. „Keine Ahnung.“
„Schätzungsweise genug, um es nochmal gerecht auf die ganze Weltbevölkerung aufzuteilen. Also, ist jetzt nur eine Vermutung. Das Problem an der ganzen Sache ist nur, dass es glaube ich genug Fälle gibt, in denen sich die Leute nie wieder verzeihen. Ob gekonnt oder nicht spielt keine Rolle.“
Er sah zum Grab. „Er hat meiner Oma einige Fehltritte verziehen...“
„Weil er auch in einer Zeit groß wurde, in der die Worte `In guten wie in schlechten Zeiten` noch etwas bedeutet haben.“
Kaum merklich streckte er eine Hand nach ihr aus. Minimal. Aber sie sah es deutlich. Die Tränen in ihren Augen vervielfältigten sich, bahnten sich noch stärker ihren Weg ins Freie.
Ein einziger Schritt.
Sie spürte sein Hemd unter ihren Fingern, krallte sich dort hinein und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Ein halbes Jahr. Ein halbes Jahr und sie hatte seinen Geruch trotzdem noch so gut in Erinnerung behalten. Beinahe suchend fuhren seine Finger über ihre Haare, verharrten an ihren Wangen, bis er ihr Gesicht anhob und ihr fest in die Augen schaute, während die Tränen liefen.
„Ich... ich habe dich so sehr vermisst...“
Sie versuchte sich zurückzuhalten, doch ihre Tränen hörten nicht auf. „Ich dich doch auch.“


© MajaBerg


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