Totenwache

Ich sitze hier an deinem Bett.

Deine Augen
sind geschlossen. Ihr strahlendes Blau hinter Lidern verdeckt für immer. Ein Tuch über dem Spiegel deiner Seele. Ein schwarzes Tuch. Lange Zeit haben deine Augen dir gut gedient. Du hattest immer einen scharfen Blick für die Realität. Es hat dich entsetzt, als sie begannen, dir ihren Dienst zu verweigern. Du hattest Angst vor der ewigen Dunkelheit, aber du bist ihr nun zuvorgekommen.

Deine Hände
sind über der Brust gefaltet. Sie, die ihr ganzes Leben lang geschaffen haben, ruhen nun. Seltsam, sie so still liegen zu sehen.

Deine Fingernägel
sind so gepflegt. Mir fremd in ihrem gestutzten Glanz. Schwarz und rissig kenne ich sie als Teil von dir. Zeugnis des steten Schaffens in der Erde. Unberücksichtigt, ihre Schwärze im Leben. Nutzlos, ihr Glanz ohne es.

Deine Haut
ist so entsetzlich kalt. Wie kann sie kälter sein als der Raum? Glatt und sauber umhüllt sie dich. Wo sind deine Falten? Deine Haut ist weich, aber die Kälte entsetzt mich, deshalb kann ich sie nicht mehr streicheln. Als hätte ich es im Leben je getan.

Dein Körper
ist so still. Wo ist der große, starke Mann, den ich kannte? Wenig Rast, selten Ruh. Wie kannst du jetzt hier so liegen, wo dir doch der Rücken dabei immer weh tat? Ich möchte dir aufhelfen, damit du es leichter hast.

Dein Gesicht
ist so ruhig. Ein bisschen Strenge ist geblieben. Schlafend habe ich dich selten gesehen, aber ich erkenne dich. Deine Linien, die große Nase, die Wangenknochen, das eckige Kinn. Ich spreche nur flüsternd zu dir, denn ich möchte dich nicht wecken. Du siehst aus, als würdest du gleich aufwachen.

Dein Herz,
es schlägt nicht mehr. Hat einfach aufgehört. Es konnte nicht mehr. Naja, so einfach ist es nicht gewesen. Du warst schon immer ein Kämpfer. Früh schon hast du gelernt, dein Herz gut zu schützen. Wolltest nicht berührt werden und konntest dadurch nicht berühren. Lange Jahre warst du damit sehr erfolgreich. Wir wussten, dass du uns liebst, aber es war nicht dein Herz, das uns dies gezeigt hat. Erst deine Enkel haben die Mauer bröckeln lassen. Ihre unschuldige Liebe hat dich erreicht. Wie hat es sich angefühlt, es zuzulassen? Und nun? Kein Pulsschlag mehr, der Lebenssaft befördert. Alles an dir ist nun still.

Deine Seele
ist schon fort. Ich kann sie nicht mehr spüren. Wo immer sie ist, hier jedenfalls nicht mehr. Dein Körper ist zu kalt, als dass sie noch darin sein könnte. Ist sie nun frei? Ich kenne keine reinere als deine. Ihr Abbild leuchtet für mich ein Leben lang. Jetzt nur noch mein Leben lang. Was passiert mit ihr? Wohin darf sie sich zurückziehen?

Die Kerze an deinem Bett ist erloschen. Ich habe keine neue geholt. Dein Lebenslicht kann ich auch nicht neu entzünden.
Draußen erwacht der Tag. Es dämmert, die Vögel beginnen zu singen. Ein paar wenige nur, denn es ist Winter. So wie in meinem Herzen. Es wird diesmal lange dauern, bis es wieder Frühling wird. Du wirst keinen mehr erleben. Keine Erde mehr umgraben, keine Blumen mehr säen, keine Ernte einholen. Du hast dein Werk vollendet. Es ist nichts Wichtiges offen geblieben. Hast du es auch so empfunden? Und kann uns dies ein Trost sein? Unsere Welt ist sowieso nicht mehr dieselbe ohne dich. Wie lieb wären uns da ein paar Schulden, wenn du sie noch begleichen könntest.

Ach Papa, ich muss nun gehen. Bald kommen sie dich abholen.
Danke für die letzten Stunden.


© Verdichter


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Kommentare zu "Totenwache"

Re: Totenwache

Autor: Sandro N   Datum: 24.08.2017 20:26 Uhr

Kommentar: Fesselnde Worte,
sie gehen direkt ins Herz.
Jeder Satz passt perfekt ins Bild, jeder Absatz zieht mich in seinen Bann.
Schon mal überlegt, Bücher zu schreiben? ;)
Gruß, Sandro

P. S.: Ich will nicht pingelig sein, aber „Die Gesicht“ und „Die Herz“ scheinen mir nicht ganz richtig. So gewollt, oder winziger Fehler?

Re: Totenwache

Autor: Verdichter   Datum: 24.08.2017 21:06 Uhr

Kommentar: Danke Sandro.
J.M. Simmel: "Die schönsten Geschichten sind am schmerzvollsten geschrieben".
Ich hoffe nicht, dass meine einmal ein ganzes Buch füllen...

Re: Totenwache

Autor: Ikka   Datum: 24.08.2017 22:59 Uhr

Kommentar: Welch' würde- und liebevolle Totenwache ---++++----

Re: Totenwache

Autor: Ezra Ypsilon   Datum: 01.09.2017 20:19 Uhr

Kommentar: Das ist wirklich das Traurigste und das Schönste, was ich seit langem gelesen habe!

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