Sie verunsichert mich, sie zerreißt mir fast Hirn und Herz, manchmal zerquetscht sie meine Lunge, nimmt mir das Gleichgewicht, zerrt oft an mir, scheint mir mein Gesicht entreißen zu wollen: Die Erwartung. Es ist nicht nur die Erwartung, die ich an mich selbst habe, es ist nicht nur die Erwartung, die die Welt an mich zu haben scheint. Es ist auch nicht nur die Erwartung, die die Experten, die in einschlägigen Talkshows sitzen, ihre - in schlecht gebügelten Cordhosen gekleideten - Beine übereinander schlagen und nach jedem zweiten Satz aus einem 0,33 l Glas einen Schluck stilles Wasser schlürfen, als gäbe diese Geste ihren zuvor geäußerten Anschauung ein Höchstmaß an Wahrheitsgehalt, an mich als junger Mensch haben. Es ist das verschlungene, festgezurrte, harte, stinkende Knäul aus all diesen Erwartungen.

Ich soll intellektuell sein. Unter meinem Rotweinglas soll Nietzsche liegen, meine Vorbilder sollen Simone de Beauvoir und Zelda Fitzgerald sein; natürlich muss ich deshalb alles verstehen, was sie geschrieben haben und mich mit ihren Worten identifizieren. Sollte der Umstand eintreten, dass ich trotz intensiver Bearbeitung ihrer Werke nicht in der Lage bin, zwischen ihnen und mir beeindruckende Parallelen zu finden, muss ich natürlich wenigstens eine kritische Stellungnahme parat haben, sollte der bisexuelle, vegane, Kaffee-süchtige, aus Supermarkt-Mülltonnen-lebende Philosophiestudent am Aschenbecher vor der Unihalle auf die Idee kommen, mich nach meiner Meinung zum Unterschied zwischen den Geschlechtern und nach meiner Ansicht über die Rolle von Beauvoir als bedeutendste Frau und Urmutter des geistigen Kampfes gegen Frauenunterdrückung zu fragen.

Für den Fall, dass das durchgekaute, besabberte, von allen Gruppierungen ausgeschlachtete Thema „Nah-Ost-Konflikt“ auf den Tisch kommt, soll ich die historischen, politischen, sozial-wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkte kennen, in einer Redezeit von 4 Minuten erläutern, sie in den historischen Kontext einbetten und ein von der Allgemeinheit toleriertes Statement ganz im Zeichen der political Correctness abgeben können, das niemanden verletzt, mich bloß nirgendwo positioniert und Raum für überflüssige Interpretationen lassen soll. Das kann ich nicht. Sonntags morgens soll ich die Welt und die Zeit lesen, soll Garden-Guerrillas planen um die heimische Flora vor dem Tod durch die egomanische, technisierte Welt zu bewahren.
Ich soll mit Kreide „Vegetarismus“ auf die kohlrabenschwarzen Wände von Schlachthöfen schreiben. Natürlich mit Kreide, denn die kann man ja abwaschen. Die beschmutzt die Fassade nicht dauerhaft. Sie ist nicht aggressiv, nicht extrem. Kreide zeigt, dass ich ein Zeichen setzen möchte, dass ich den Willen habe zu protestieren, dass ich aber natürlich das Eigentum des Schlachters respektiere und ihm und seinem Berufsfeld einen Grundrespekt entgegenbringe, den bekanntlich jeder Mensch verdient hat…. Zwar habe ich die Tiere, die er jeden Tag mit Bolzenschussgerät, Elektroschocks und Klingen tötet, ausbluten lässt und in plastikboxgerechte Happen zerschneidet zu gleichberechtigten Lebewesen erkoren und habe Fleischkonsum in meiner Ethik-Matrix dem Mord gleichgesetzt, doch ausfallend muss ich deshalb ja nicht werden. Deshalb die Kreide... Schwachsinn!

Ich soll zu allem eine Meinung haben. Eine gute. Ich soll nicht mehr wanken, nicht mehr unsicher sein, mir nicht mehr selbst widersprechen. Aber das tue ich: Mehrmals täglich und das mit Leidenschaft. Jedes Mal bin ich von neuem der Überzeugung richtig zu liegen, nun meine Position gefunden zu haben, hier verweilen zu können. Ich springe für meine Meinung in die Bresche, kämpfe laut für sie, verbreite sie verführerisch. Ich fühle mich als Kämpfer, als Missionar meiner Einstellung, als Verführer der Unsicheren. Bis ich zwei Stunden später eine andere habe. Ich selbst fühle mich damit eigentlich sehr wohl. Ich habe nicht das Gefühl mich zu verraten, eher das Gefühl, mich immer wieder neu zusammen zu setzen, mich auszuprobieren, mich umzuziehen, mich mal zu verkleiden und mal auszuziehen. Bis meine Umwelt mich in meinem Tanz der Launen plötzlich feste packt, schüttelt und mich genervt darauf aufmerksam macht, dass ich nicht dauernd etwas anderes erzählen könne. Da wird der Pfeil des Selbstzweifels in mein Fleisch gebohrt und sein Gift kriecht durch meine Hirnwindungen, lässt mich straucheln, lässt mich überreflektieren. Wer bin ich? Welche Meinung ist die meine? Was für ein Mensch bin ich, wenn ich jene oder diese Meinung äußere? Passt diese Meinung zu mir? Steht sie mir? Gibt es sie auch in azurblau?
Plötzlich schäme ich mich, habe das Gefühl mich selbst lächerlich gemacht zu haben. Ein Mensch braucht Positionen, damit andere ihn einordnen können. Wie soll man mich ernst nehmen können? In diesen Momenten will ich mich bei der Welt dafür entschuldigen. Wie konnte ich es wagen, quer zu denken, gar nicht zu denken, stupide zu denken, einfach zu denken, second-Hand Gedanken zu denken. Zu reden und zu schauen, was passiert. Zu reden, ohne mich darum zu scheren, was passiert. Zu reden damit etwas passiert.

Ich soll open-minded sein. Ich soll alles ausprobieren wollen, auf alles neugierig sein, soll jede Erfahrung machen wollen. Nein, Danke. Ich muss nicht mit zwanzig mehr oder weniger sympathischen Menschen auf einer Party aus einem Glas getrunken haben um mir das Gefühl zu geben, Teil eines liebevollen Ganzen zu sein. Und mir vielleicht dabei Hepatitis einzufangen… das wäre jedenfalls mal eine Erfahrung außerhalb des Mainstream. Ich muss auch nicht erst bekifft Gruppensex mit 4 Männern gehabt haben um zu wissen, dass ich es nicht mögen werde als Breitbandloch zu fungieren. Die Vorstellung genügt, um Zorn und Angst in mir aufsteigen zu lassen. Ich möchte diese Erfahrung nicht machen. Und wenn es so ist wie ihr sagt; dass man nicht weiß, ob man etwas mag, bevor man es nicht erlebt hat, dann muss ich erneut meine Meinung ändern, meine unstabilen, wackeligen Pappimitate von Prinzipien wieder einreißen und erwidern, dass Unwissenheit eh voller Reize steckt. Aber ich soll doch komplex werden durch Erfahrungen?! Nur wenn ich ein halbes Jahr Abwasseranlagen in Papua-Neuguinea gebaut habe, kann ich als Mitteleuropäer mit First-World-Problems ein weißes Stück meiner Persönlichkeit bunt ausmalen. Es scheint ein Malen nach Zahlen zu sein; nur mit Erfahrungen. Sammle Erfahrungen und du wirst bunter, komplexer, spannender. Verweigere dich Dingen und du bleibst schwarz-weiß. Warum hat Verweigerung nicht auch eine Farbe? Warum malt mich nur Aktionismus aus und nicht die Wahl, die ich treffe? Und wie soll ich in meiner kurzen Lebensdauer all diese Erfahrungen machen, die mich zu einem hippen, faszinierenden Menschen meiner Zeit werden lassen?
Schließlich soll ich die Bilder junger Künstler verstehen, soll Rucksack-Tourist sein, soll gläubiger Buddhist mit tätowiertem Gedicht auf der Schulter werden und anschließend soll das Gewand des atheistischen Kommunisten mich bekleiden. Ich soll als Emanze Männer hassen, soll als Feministin Frauen lieben, soll Sex-Sklavin und politische Aktivistin sein. Keine Party soll ich auslassen aber alleine auf meinem Sofa Max Frisch lesen. Mit einem Kaffeebecher to-go bewaffnet, dem Wappen und Symbol grenzenloser Produktivität und Wichtigkeit, soll ich in der universitären Bibliothek sitzen und fleißig meinen Horizont erweitern. Gleichzeitig soll ich mich kreativ betätigen, soll Theaterstücke schreiben, Musik machen, mich für Studienstiftungen bewerben und erfolgreich sein. Drogen soll ich ausprobieren – das ist unkonventionell und grenzgängerisch – aber bitte nicht süchtig werden; Intellektuelle werden nicht süchtig. Mein Geld soll ich für Kinofilme ausgeben, deren Schauspieler ich nicht kenne und deren Inhalt ich nicht verstehe; das ist gerade klug genug. Bloß keine simple Unterhaltung, kein Junk-Food fürs Gehirn. Mir soll die working-Life-Balance wichtig sein. Weizenmehl esse ich nicht mehr, denn es verklebt den Darm; ‚das Organ mit Charme‘. Bücher mit solchen Titeln lese ich jetzt.

Die Liebe soll für mich kompliziert sein. Ich soll all ihre Facetten schätzen und all ihre Auswüchse ausprobieren; ganz gleich wie schmerzhaft, wie pervers, wie selbstverletzend. Die Erfahrungssucht macht auch vor der Liebe keinen Halt. Ich soll im Bett für meine Wünsche einstehen und muss aktiv sein wollen, denn jeder ist für seinen Orgasmus selbst verantwortlich; ein weltverändernder Erfolgsgedanke der Emanzipation. Sex soll für mich normal sein, er soll dazu gehören, soll weder etwas ohne Bedeutung sein, noch etwas zu bedeutungstragendes. Ich soll mich in meinem Körper wohl fühlen und mich deshalb sexuell ausleben können. Tritt der Fall ein, dass ich doch unsicher sein sollte, muss ich wenigstens den Mut haben, augenblicklich ein langes, intensives Aufklärungsgespräch mit meinem Partner zu führen, in dem ich ihm meine Unsicherheit in aller Deutlichkeit vermittle (am besten mit einer Erklärung aus meiner traumatisierenden Vergangenheit…). Beziehungen brauchen keine Etikette mehr. Ich soll nichts mehr beschriften, nichts mehr kategorisieren. Zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren jetzt nicht mehr so. Man ist nicht mehr entweder zusammen oder Single. Das wäre zu einfach. Viel lieber definiert man nicht, grübelt über die Grenzen und Möglichkeiten dieses zwischenmenschlichen-Irgendwas, nur um irgendwann festzustellen, dass beide unterschiedliche Grenzen gezogen haben, man sich verrannt hat, falsche Erwartungen hatte, nicht dieselben Schritte im selben Tempo gehen wollte und man im Kopf eine Scheinversion dieser Beziehung hatte, die mit dem Gegenüber gar nicht zu verwirklichen ist. Diese Erkenntnis ist dann der Einsatz des Schmerzes. Und der fühlt sich immer gleich an. Egal ob man eine altmodische Definition von Paar war oder ein unkonventionelles Duo. Wenn Herzen zerbrechen, erklingt immer der gleiche Ton und wenn Seelen sich verdunkeln, ist das Schwarz immer Tiefschwarz. Also was nützt mir ein chaotisches Wirrwarr aus Nicht-Definition, aus freier Liebe und dem Bedürfnis, bloß anders zu lieben als der Rest, wenn daraus ein Konstrukt entsteht, dass ebenso schmerzhaft, seelenzerreißend und blutschwärzend zerbersten kann? Wir machen unsere Beziehungen dadurch nicht sicherer. Nicht einmal interessanter. Denn die Probleme bleiben die gleichen; sie klingen im ersten Moment nur komplizierter.

Doch es ist schwer, sich gegen das große Soll zu wehren. Denn auch ich selbst fordere ja all diese Dinge von mir; und im nächsten Moment keines von ihnen. Welche meine Solls sind und welche nur die der anderen, kann ich nicht mehr beurteilen. Und so wanke ich durch die Tage, im Kampf um mein Bewusstsein, im Kampf um meine Selbstständigkeit, im Kampf um meine freie Entscheidung. Was ist meinem Kopf entsprungen, was ist hineingeflößt? Ich sollte es herausfinden.


© amia


7 Lesern gefällt dieser Text.











Kommentare zu "Das große Soll - Gedanken einer jungen Frau"

Re: Das große Soll - Gedanken einer jungen Frau

Autor: Ellena V. Schürer   Datum: 12.09.2014 11:38 Uhr

Kommentar: Deine Wortwahl, deinen Stil dich auszudrücken, finde ich genial. Selten hat mich ein Text so in den Bann gezogen, dass ich ihn einfach zu Ende lesen "musste". Ich habe das anfängliche Überfliegen rasch aufgegeben um die Worte wirken zu lassen. LG

Re: Das große Soll - Gedanken einer jungen Frau

Autor: amia   Datum: 12.09.2014 11:42 Uhr

Kommentar: Ich danke dir von Herzen. Ich freue mich sehr über jegliches Feedback und wenn es dir gefallen hat, macht mich das sehr froh.

Re: Das große Soll - Gedanken einer jungen Frau

Autor: Karsten Stapelfeldt   Datum: 12.09.2014 14:58 Uhr

Kommentar: Ich hab nur selten etwas gelesen, dass die Ganze Heuchelei unserer moderen Gesellschaft so gut abbildet. Schön von jungen Leuten auch mal so kritische Texte zu lesen und nicht bloß irgendwelches Gerede, das am Ende nur wieder die von dir beschriebenen Probleme und Konkurrezkämpfe zu rechtfertigen versucht. Weiter so!

lG Karsten

Re: Das große Soll - Gedanken einer jungen Frau

Autor: Mark Gosdek   Datum: 12.09.2014 15:30 Uhr

Kommentar: Ein absolut starker Text. Mark

Re: Das große Soll - Gedanken einer jungen Frau

Autor: Ralf Risse   Datum: 19.02.2015 8:01 Uhr

Kommentar: Vielen Dank für deine außergewöhnlich ehrlichen, substanziellen und genial verfassten Zeilen. Man kann sich ihnen ebenso wenig entziehen wie der gesellschaftlichen Gnadenlosigkeit, die du ansprichst. Ich freue mich deinen Text hier gefunden zu haben, und hoffe du lässt uns mehr von dir lesen.

Liebe Grüße
Ralf

Kommentar schreiben zu "Das große Soll - Gedanken einer jungen Frau"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.