Tilda und Trude saßen gemütlich bei einem Sektfrühstück, dass sie sich einmal die Woche gönnten, als Trude lauthals drauflos fluchte: „Verdammte Scheiße, ich habe noch keinen Weihnachtsbaum und nächste Woche ist Weihnachten!“ Tilda fiel vor Schreck fast das Sektglas aus der Hand. „Trude, bitte nicht so laut, die Leute drehen sich schon nach uns um! Komm, wir besorgen dir nach dem Frühstück einen Baum.“

Doch einen Baum für Trude zu finden, war schier unmöglich. Der eine war zu klein, der andere zu krumm, der nächste zu teuer. An jedem hatte Trude etwas auszusetzen. Mittags war Tilda mit ihren Nerven am Ende. Sie setzte Trude zu Hause ab und sagte spaßhalber, sie solle sich doch einen Baum aus dem Wald holen, der wäre wenigstens kostenlos.

Nach diesem anstrengenden Vormittag brauchte Tilda ein Mittagsschläfchen. Sie machte es sich auf der Couch bequem und schlief erschöpft ein. Der schrille Ton der Türglocke, die ununterbrochen gedrückt wurde, riss sie aus dem Schlaf. Benommen stand sie auf, taumelte Richtung Tür, stolperte über ihre achtlos hingeworfenen Stiefel, krachte gegen den Schuhschrank und schlug sich die Zehen an. Humpelnd erreichte sie die Eingangstür. Als sie diese öffnete und sah, wie Trude vor dem Gartentor die Glocke malträtierte, hätte sie sie am liebsten umgebracht. „Was willst du schon wieder?“ fuhr sie Trude an. „Na was hast du denn für eine Laune, und wie du aussiehst! Hast du deine Haare mit der Klobürste frisiert?“ erwiderte Trude charmant und ignorierte Tildas Frage. „Los, zieh dir was an, wir besorgen uns jetzt einen Weihnachtsbaum aus dem Wald.“ Tilda schnappte nach Luft, aber sie war noch viel zu verschlafen um sich mit Trude anzulegen.

Kurz darauf saßen sie in Trudes Auto und fuhren Richtung Wald. Während der Fahrt musterte Trude Tilda und meinte: „Hast du keine anderen Klamotten, wir gehen in den Wald und nicht auf den Seniorenball.“ „Na du hast es nötig.“ erwiderte Tilda. Mit deinem Leopardenprint-Outfit kannst du dich als Lockvogel für die Großwildjagd bewerben. Und seit wann geht man mit 10 cm-Absätzen in den Wald?“ „Ach halt` doch die Klappe!“ erwiderte Trude beleidigt und sprach bis zum Ende der Fahrt kein Wort mehr.

Im Wald angekommen fischte Trude eine Axt und eine kleine Trittleiter aus dem Kofferraum, drückte Tilda etwas unsanft die Leiter in die Hand und marschierte mit geschulterter Axt zu den umzäunten Bäumen.

Trude stellte die Leiter zum Zaun, ignorierte Tildas Einwände, dass die Leiter zu klein sei und stieg hinauf. Sie musste sich eingestehen, dass Tilda nicht ganz unrecht hatte. Da sie aber vor Tilda nicht klein beigeben wollte, stieg sie mit einem Bein über den Zaun und als sie einigermaßen Halt hatte, hob sie das zweite Bein darüber. Durch die schwungvolle Bewegung gab der Zaun nach, Trude verlor den Halt und fiel mit einem Entsetzensschrei zu Boden. Tilda erschrak ebenso, musste aber beim Anblick Trudes, die sich mit einem Fuß im Zaun verheddert hatte und auf dem Rücken liegend wild um sich schlug, lauthals loslachen. Die Axt war in hohem Bogen in eine Tanne gekracht, sodass die Vögel, die in den umliegenden Bäumen nisteten, aufgeregt davonstoben. Trude schaffte es, sich aufzusetzen und fuhr Tilda an: „Lach nicht so blöd, hilf mir lieber, meinen Fuß aus dem Zaun zu kriegen!“ Mit einiger Mühe schaffte es Tilda, Trude zu befreien, riss aber dabei den Absatz vom Stiefel.

Trude humpelte zur Tanne, schnappte sich die Axt und begann zornig den nächst-besten Baum umzuhacken. Dann warf sie ihn über den Zaun, die Axt hinterher, kletterte – jetzt etwas vorsichtiger – auf den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite in das weiche Gras fallen. Sie schnappte sich den Baum am Stamm, humpelte, mit abgebrochenem Stiefelabsatz, den Baum hinter sich her schleifend, in Richtung Auto und ignorierte Tilda – die sich bemühte, nicht wieder lauthals loszulachen. Tilda nahm die Axt und die Leiter und folgte Trude.

Beim Auto angelangt, versuchte Trude den Baum im Auto zu verstauen. Sie zog und schob hin und her, bis der Stamm plötzlich durch die Heckscheibe krachte. Sie holte tief Luft, setzte sich ins Auto, startete und fuhr Tilda an: „Was ist, willst du hier Wurzeln schlagen?“. Kaum war Tilda eingestiegen, gab Trude Vollgas. Es grenzte an ein Wunder, dass sie - ohne weiteren Schaden zu nehmen – nach Hause kamen.

Bis Weihnachten ließ Trude nichts mehr von sich hören. Tilda brachte ihr am Weihnachtsabend eine kleine Aufmerksamkeit vorbei und ließ sich den ge-schmückten Baum zeigen. Er war nicht anders, als die Bäume, über die Trude bei den Händlern gelästert hatte. Lediglich der Preis war um ein vielfaches höher.
Trude gab Tilda gegenüber zähneknirschend zu, dass ein gekaufter Baum weit weniger Aufwand und Kosten verursacht hätte, konnte sich aber nicht verkneifen, Tilda mit „Aber du hast mich auf diese Schnapsidee gebracht!“ einen Teil der Schuld zuzuweisen. Dann grinste sie über das ganze Gesicht, sagte „Schwamm drüber. Frohe Weihnachten.“ und drückte Tilda ein Glas Sekt in die Hand.


© S.H. Fisher


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