Ralf schlug seine Schuhe gegeneinander und trat heftig auf, um die Kälte zu vertreiben. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen, er war pulverig, trocken und rieselte in winzigen Kristallen unablässig vom Himmel. Überall waren Stände aufgebaut worden. Es roch nach gebrannten Mandeln, Bratäpfeln und Glühwein. Die Fenster vieler Wohnungen waren mit bunt und wild blinkenden Lichterketten geschmückt. Man konnte fast meinen, die Leute wollten sich mit all dem Geflimmer gegenseitig übertrumpfen. Frei nach dem Motto: je mehr und je wilder es blinkt, desto besser ist man auf Weihnachten vorbereitet und nur wer gut auf Weihnachten vorbereitet ist, kann auch ein guter Mensch sein …
Na ja, Ralf war jedenfalls nicht besonders gut vorbereitet.
Für Weihnachtseinkäufe war es jetzt schon fünf vor zwölf, obwohl die alte Rathausuhr gerade einmal zehn Uhr anzeigte. Zehn Uhr am vierundzwanzigsten Dezember.
Es war kalt, lausig kalt! Schneekristalle verfingen sich in seinem Bart. Seine Atemluft verwandelte sie zu kleinen, fest sitzenden Eisbrocken.
Er hatte sich vor dem Schaufenster, gleich neben dem Haupteingang des Kaufhauses aufgebaut. Hier kam ab und zu ein kleiner Schwapp warmer Luft nach draußen, den die vielen Weihnachtseinkäufer von drinnen mitbrachten.
Glücklich sahen sie aus. Diejenigen, die ein Geschenk gefunden hatten. Ob es das Richtige war, würde sich herausstellen – aber sie waren erst mal aus dem Schneider und trugen gerne unzählige Papiertüten mit leichtem Schritt nach Hause.
Die Anderen, die mit dem leicht verkniffenen Lächeln, die, die jetzt immer noch nichts gefunden hatten und erste Anzeichen von Panik erkennen ließen, bildeten die Minderheit, viele waren es jedoch trotzdem. Er wusste, noch zwei Stunden und sie würden wieder im Kaufhaus untertauchen und dann irgendetwas kaufen, nur um ihr Gewissen zu beruhigen.
Die Schaufensterpuppen trugen schwarze Spitzenunterwäsche mit Strapsen, glänzende, hochhackige Lederstiefel und rote Weihnachts-mannmützen. Er musste schmunzeln, als er sie ansah. Lauter kleine nuttige Weihnachtswichtel. Er hatte bis heute nicht verstanden, warum sich Frauen so etwas anziehen, wo sie doch nackt am schönsten aussehen – jedenfalls einige. Sein Lächeln wurde eine Spur breiter, als er in Gedanken die kleine, bescheidene Bildergalerie seiner gewonne-nen Erfahrungen durchging. Nein, keine von ihnen hätte sich so anziehen müssen!
Sein Gitarrenkoffer stand aufgeklappt vor ihm. Er hatte drei seiner CDs in die Deckelklappe gestellt und einige Münzen zum Anfüttern in den Koffer geworfen. CDs kaufte eigentlich fast niemand. Aber er wollte nicht aufgeben. Seine leisen Lieder waren eher etwas zum Nachdenken, nichts zum Klatschen und schon gar nichts zum Tanzen. Er wusste, dass die Ware, die er da anbot, nicht gerade massenkompatibel war. Trotzdem kränkte ihn, dass alle Welt irgendwelchen Müll kaufte, über den sich eh wahrscheinlich keiner freuen konnte und der vielleicht noch in diesem Jahr in der Tonne landen würde.
Seine Finger waren klamm und die gezupfte Melodie von „Oh du Fröhliche“ kam etwas holprig. Er konnte es besser – aber nicht bei minus acht Grad und Weihnachtslieder waren eigentlich nicht so sein Ding.
Mitleidig schüttelte ein älterer Herr seinen weisbehaarten Kopf – sicher ein ehemaliger Musiklehrer, der seinen Schülern noch „Brüder zur Sonne zur Freiheit“ eingebläut hatte, dachte Ralf wütend. Der hat doch keine Ahnung, träumt heute noch vom Sieg der Weltrevolution und sieht in mir nur den Bodensatz einer unvollkommenen, sterbenden Gesellschaft. Wenn er Mitleid mit mir hat, warum fliegen dann keine Münzen in meinen Koffer, fragte er sich. Alter Arsch, der! Wenigstens ein Glühwein und eine Bratwurst sollten heute doch wohl rausspringen am heiligen Abend, dem Fest der Freude.
Er merkte, wie ihm allmählich die Kälte den Rücken rauf kroch. Die aufreizenden Damen aus Gips hinter ihm saßen im Warmen. Gerecht ist das nicht. Aber was war schon gerecht. Um Gottes Willen, jetzt nicht philosophisch werden, dachte er. Seinen Job war er vor drei Monaten los geworden. Er hatte sich für einen Kumpel eingesetzt – der hat seine Arbeit jetzt noch, hat ja auch nicht aufgemuckt, nicht so einen großen Rand riskiert. Verbittert biss sich Ralf auf die Lippen. Sich für jemanden einsetzen, so ein Blödsinn! Sabine hatte das damals auch gesagt, dann hatte sie ihn verlassen, nachdem er sich zwei Wochen lang wehleidig dem Suff hingegeben hatte und anschließend von ihr mit einer Frau erwischt worden war, an die er sich heute nicht mehr erinnern konnte.
Ralf zupfte gedankenverloren die Saiten seiner Gitarre. Ein Schnösel in Nadelstreifenhosen, Ralf tippte auf Banker, Versicherungsvertreter oder Staubsaugerverkäufer, sprintete zum gegenüberliegenden Juwelier-laden, aus dem er schon nach fünf Minuten freudestrahlend wieder heraus kam. Schnell gekauft, teuer und wehe, die Alte zu Hause freut sich nicht und krault ihm nicht drei Wochen lang den Bauch oder so. Ralf dachte eher an „oder so“ und spuckte auf den Bordstein.
Drei fufzig, tolle Ausbeute, für zwei Stunden Arschabfrieren. Er kratzte das Kleingeld zusammen und verstaute seine Klampfe im Gitarrenkoffer. Na ja, für eine Bratwurst könnte es wohl gerade reichen. Die würde er sich bei Martin am Stand gegenüber holen. Der Rest ging für ein Schokoladenherz drauf. Damit und mit der Flasche Rotwein, die er für schlechte Zeiten zum Glück noch in seinem Versteck gebunkert hatte, würde er zu Annemarie gehen. Die hatte er vor sieben Wochen kennengelernt. Seit drei Jahren lebt die Kleine nun schon auf der Straße, spricht ein bisschen vulgär, sieht auch komisch aus mit all ihren Piercings, den knallrot gefärbten Haaren und den schwarzen Kunstlederklamotten, jedenfalls auf den ersten Blick. Aber eine ganz Liebe ist die! Nur ihr Köter ist wachsam, fletscht dauernd die Zähne, macht einen auf bedrohlich, war eben ihr Beschützer bisher. Das kann sich ja ändern. Vielleicht geht heute was – ist ja Weihnachten, dachte Ralf und machte sich auf zu der alten leer stehenden Fabrikhalle. Dort hatte er die Rotweinflasche versteckt und dort würde er auch Annemarie finden, die ihm vielleicht die Wärme geben würde, die er heute schon den ganzen Tag vermisst hatte.


© Thomas Stein


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Kommentare zu "Ein Hauch von Weihnachten ..."

Re: Ein Hauch von Weihnachten ...

Autor: Blue   Datum: 05.12.2011 16:24 Uhr

Kommentar: Eine Weihnachtsgeschichte einer ganz anderen Art. Interessant :)

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