Die Geschichte über den ''Dingelhopper''

© Joy M. Mirth

Sommer, oder das, was wir derzeit Sommer nennen, ist mittlerweile auch in weiten Teilen NRWs eingetroffen. Nachdem mich die schwüle Hitze in Hamburg schon genervt hatte, tat sie dies nun auch in meinem Heimatort in der Nähe von Münster. Heute verschaffte nur am Vormittag ein kurzes Gewitter samt ebenso kurzem Regenschauer Abkühlung. Diese hielt aber genauso lang an, wie mein Verlangen nach Bewegung in der Sonne: nämlich kaum 5min. Meine Mutter, unser Hund und ich schleppten uns von einer Sitzgelegenheit zur nächsten. Und das nicht in der Natur, sondern zu Hause. Dazu kam, dass unsere Retrieverdame auch noch frisch operiert worden war, somit durften weder sie noch konnten wir uns überhaupt irgendwo anders hinbewegen, als maximal bis auf die Terrasse und wieder zurück ins Wohnzimmer. Dabei immer darauf achtend, dass die Vierbeinerin keine schnellen Bewegungen machte oder auf die Idee kam, sich irgendwie ihres "Kragen-der-Schande" zu entledigen. Mit dem Ende des scheinbar 48h dauernden Tages, kippte auch die Stimmung. Alle waren genervt, vor allem mein Bruder, als er von der Arbeit kam, aber auch wir, die unausgelastet mal wieder draußen saßen und anfingen vor uns hinzumeckern. „Du bist noch zu warm.“, murmelte meine Mutter ihrem Glas Weißwein zu. „Mir juckt jetzt aber der Hintern!“, grummelte ich, denn mal wieder hatte sich eine Mücke abends zuvor auf mir niedergelassen und mir (wahrscheinlich recht genüsslich) seitlich am Oberschenkel einen ordentlichen Stich verpasst. Und natürlich konnte es kein kleiner feiner Stich bleiben, nein, er war wieder einmal mutiert. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte man die unübersehbare Wölbung, die selbst durch meine Jeans erkennbar war, wohl meinen können, die mega Cellulite hätte mich heimgesucht. Mein Bruder meckerte über die Arbeit, die Hitze und überhaupt schwoll die Luft durch unsere aufgeheizten Gemüter nur noch mehr an. Er verzog sich bald darauf aber zu Freunden, nachdem er Mama und mir noch eine Pizza Margherita mit Knoblauch aus dem Imbiss brachte und so saßen wir dort, erst einmal schweigend, und mampften mürrisch vor uns hin. Ja, uns fehlte die körperliche Auslastung von unseren sonst stattfindenden Wanderungen durch Wald und Wiesen, die wir immer veranstalteten, sobald ich zu Besuch kam. Nach dem Essen (und zwei weiteren Gläsern Weißwein) war die Stimmung schon wieder deutlich besser. Mama erzählte über ihre Kindheit, über die gesellschaftlichen und vor allem familiären Gepflogenheiten von damals (hin und wieder war ich doch überrascht, dass manche meiner Verwandten sich über die Jahre so gar nicht verändert hatten), der Abend schritt voran, wir quälten uns noch eine letzte, schrecklich langsame Runde mit dem Fiffi um die Häuser und endeten letztendlich auf dem Sofa vor dem Fernseher. Zwei Krimis später zeigte die Uhr 01:45Uhr. Also schleppten wir uns zur nächsten Lagerstätte, die Treppe hoch in den ersten Stock und in unsere Betten. Natürlich hatte sich hier die Wärme nochmal so richtig schön gesammelt, denn auch lüften half ja nichts, und nach einer gemeinsamen Abschminkaktion, einer festen Umarmung und der Feststellung, dass der Tag eigentlich wohl ganz nett war und es leider vielen Menschen doch deutlich schlechter geht als uns, verschwanden wir in unserem jeweiligen Zimmer. Vorerst. Denn kaum 2min später ertönte ein Aufschrei aus dem Schlafgemach meiner Mutter. Ich dachte schon, sie wäre vielleicht von einem Monster, das unter ihrem Bett gelauert hatte, angegriffen worden. Das hatten wir nämlich gemeinsam: die Bettdecke immer bis über die Füße (bei ihr auch bis zum Hals), damit keiner nachts heimlich an den Füßen grabbeln konnte. Bei ihr waren es die Monster, bei mir war es eine fiese riesige Ratte, seit ich als Kind "Susi und Strolch" gesehen hatte, wo tatsächlich so ein Vieh ein Kinderbettchen befallen hatte.
Disney hatte nicht nur schöne Erinnerungen hinterlassen!
Aber nein, das war es nicht. Kein Monster, keine Ratte. Ich riss die Tür auf und da stand meine Mutter auch schon im Flur, um den Staubsauger zum Einsatz zu bringen (hier nochmal die Erinnerung an die Uhrzeit). „Da sitzt ein Dingelhopper an meiner Decke“, sagte sie und blickte mich ernst an.

Definition: „Dingelhopper, der“ Eigentlich Synonym für „Gabel, die“ aus „Arielle, die Meerjungfrau“ (womit wir wieder bei Disney sind); in diesem Fall Synonym für „Grashüpfer, der“

Da saß tatsächlich ein kleiner grüner Hüpfer und mir fiel sofort Jimminy Grille aus Pinocchio oder Flip, der hüpfende Freund von Biene Maya ein. Also, Staubsauger an, Grashüpfer rein. Theoretisch. Denn dann ertönte ein Schrei, der mit Sicherheit nicht nur meinen bereits schlafenden Bruder, der sich vor einiger Zeit durch die Haustür rein geschlichen hatte, weckte, sondern auch die gesamte Nachbarschaft. Dazu ein Gehopse, ähnlich einem Regentanz oder einem anderen rituellen Ums-Feuer-Tanzen, ein Gepolter vom hingeworfenen Staubsauger, ein heulender Hund im Wohnzimmer und kurz darauf eine völlig aufgelöste Mama. „DER HAT MICH ANGESPRUNGEN“, wimmerte sie. Ich bin zwar auch kein Fan von den Tierchen, aber so schlimm, dass sie bei mir einen Quasi-Herzanfall auslösten, fand ich sie dann doch nicht. Also, ich ran, mit Taschenlampe, das Vieh suchen. Und kurz darauf fand ich es, auf dem Boden, knapp neben der Stelle, an der es meine Mutter attackiert hatte. Ich glaube, der Grashüpfer war bereits selbst einer Herzattacke erlegen, jedenfalls rührte es sich nicht mehr und so übernahm ich die Aufgabe, ihn einzusaugen. Meine Mutter verkroch sich dann wieder in ihr Bett, doch bevor sie das Licht löschte, musste ich noch jede Ecke im Zimmer auf weitere Dingelhopper überprüfen, samt Bereich unter dem Bett.

Als ich einige Minuten später dann selbst auf den Schlaf wartete, begannen meine Gedanken zu kreisen. Ich ertappte mich kurz zuvor dabei, dass ich mich das erste Mal seit Jahren nicht normal in mein Bett legte, sonder hineinstieg, als würde ich auf einen Stuhl oder eine Treppe hinauf steigen. Und das vom Fußende aus, nicht von der Seite. Ein paar Worte meiner Mutter, die im Laufe des Abends gefallen waren, hallten in meinem Kopf noch leise nach: „Wenn sich jemand unter deinem Bett versteckt, rechnet er doch damit, dass du von der Seite aus hineinkriechst. Die bietet auch viel mehr Angriffsfläche.“ Sie verriet mir auch, dass sie selbst früher immer vom Fußende aus ins Bett kletterte. Warum also, fingen wir jetzt wieder damit an? Lag es daran, dass ihr Ekel vor Grashüpfern mich angesteckt hatte und ich vermeiden wollte, etwaige Geschöpfe (wobei Spinnen noch schlimmer wären), die vielleicht auch in meinem Zimmer Unterschlupf gesucht hatten, aufzuscheuchen? Während ich jedoch so da lag und die Minuten verstrichen und meine Gedanken mich immer weiter vor dem Schlaf davon trugen, kam ich nicht umhin mich zu fragen:

Hat nicht jeder ein Monster, dass unter seinem Bett im Dunkeln lauert und darauf wartet hervorzukommen?
Normalerweise hören wir die Geschichte von Monstern unter dem Bett ja von Kindern. Während eines Sommerlagers habe ich solche Geschichten häufiger von den kleinen Mädchen, die ich betreute, gehört. Das schlimmste wäre gewesen, wenn ich diese Geschichten nicht Ernst genommen hätte. Doch das tat ich.
Und ich denke, auch ich habe noch solche Monster, solche, in meinen Augen, versteckte Ängste und generell vielleicht auch Gefühle, die ich nur allzu gern in eine dunkle Ecke verbanne. Hat die nicht jeder? Die Angst im Beruf nicht die geforderte Leistung zu erbringen oder viel mehr für sich selbst nicht genug zu leisten. Dem Partner nicht zu genügen mit dem, was man geben kann, mit all seinem emotionalem Reichtum, oder auch zu viel in eine Beziehung zu investieren. Die im Leben gesteckten Ziele nicht zu erreichen, das Wunschgewicht nicht zu erreichen, weil dann doch eine Tafel Schokolade im Schrank lauert, nie aussehen zu können wie dieser oder jener, in der eigenen Entwicklung zu stagnieren, Freundschaften nicht ausreichend zu pflegen, Familienbande nicht eng genug geknüpft zu haben, die Miete irgendwann aus welchen Gründen auch immer nicht mehr zahlen zu können, dann ist da noch die unbezahlte Rechnung aus dem letzten Monat, der heimliche Schwarm, dem man seine Gefühle aber dann besser doch nicht offen darlegt, denn das hieße ja, sich seelisch auszuziehen und was wäre, wenn er oder sie dann nicht so empfindet, die Sorge vor Krankheiten und als letztes sicherlich auch die Angst vor dem Tod, vor dem eigenen und vor dem geliebter Menschen. Wenn das nicht ganz schön dicke, fette Monster sind, dann weiß ich es auch nicht?!
Es wäre falsch, von Zeit zu Zeit nicht über all die wichtigen Dinge im Leben nachzudenken und sie für immer unter das Bett zu verbannen. Fakt ist, irgendwann brechen sie aus, all diese Monster und das dann wahrscheinlich auch noch gleichzeitig. Tja und dann? Dann möchte ich nicht in der Haut des Schlafenden stecken. Unbequemes gehört leider genauso in unser Leben, wie die schönen Dinge. Unser Ziel sollte es vielleicht sein, eine Balance für uns und unsere Seele zu finden, damit Hass gar nicht erst zu weit aufkeimen kann und Liebe nicht gleich im Keim erstickt wird. Wir müssen einfach mehr darauf achten, dass die Monster ins uns nicht eines Tages Besitz von uns ergreifen, wir uns in der Tiefe eines Strudels aus Negativität verlieren und am Ende unseres Lebens nicht alles, vor allem nicht das Leben selbst, bereuen. Dann doch lieber mal einen Tag aufgewühlt sein, alles zerdenken, heulen wie ein Schlosshund, Schokolade in Mengen essen, dazu literweise Wein trinken, aber am nächsten Morgen dann gestärkt aus der Sache hervorgehen und sich freuen, dass die Monster unter dem Bett vielleicht doch nur kleine Grashüpfer sind.


© Joy M. Mirth


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Über Monster unter dem Bett




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