Wandertagebuch: 1. Eintrag

Auf Schusters Rappen lerne ich das Atmen wieder, wobei mir gerade ziemlich die Puste ausgeht. Die letzte Steigung hat meine Stimmung gehörig in den Keller getrieben.
„Sitzen ist das neue Rauchen“, sagte man mir und so schnürte ich die Wanderschuhe und machte mich frohen Mutes auf den Weg. Der Weg ist schließlich das Ziel. Doch nach den ersten Kilometern unter sengender Sonne, einem Wadenkrampf und einer dicken Blase am rechten Zeh frage ich mich ernsthaft: Was für ein Ziel soll das denn bitte sein?

Zuerst einmal durchatmen, den schweren Rucksack von den Schultern nehmen, ein kleines Feuer entfachen und die Frage eine Frage sein lassen. Vielleicht ist es ja gerade das: Es braucht nicht auf jede Frage eine Antwort zu geben. Von unserem digitalen Alltag sind wir es gewohnt, jeder Frage auf den Zahn zu fühlen bis kein Zweifel (und kein Zauber) mehr bleibt. Die Ideologie der allumfassenden Sicherheit und der ständige Druck dieselbe herstellen zu müssen, macht allzu viele Menschen zu gestressten Kopien ihrer selbst. Das Original suche ich auf diesem steinigen Weg in den Bergen.

Alles hat ein Ende. Die (natürlich vegetarische) Grillwurst über meinem Feuer sogar zwei. Eine Mücke sticht mich in den Nacken, im Reflex schlage ich sie tot. Das wäre mir vorm heimischen Bildschirm sicher nicht passiert. Dort hätte ich aber auch nicht gemeinsam mit zirpenden Grillen den Sonnenball hinter die Baumwipfel tauchen gesehen.

Hinter jeder Wegbiegung und nach jedem Schritt kann ein Wunder geschehen, wenn mein Geist es zulässt. Wahrscheinlich ist es diese kindliche Neugier, die vielen Menschen abhandengekommen ist und die verhindert im Hier und Jetzt zu sein. Zu Sein, statt immer nur werden zu wollen, kann man vielleicht am besten, wenn man der Natur bei eben diesem Sein zuschaut und sich als Teil dieses großen Ganzen begreift, vor dessen Hintergrund die eigenen Sorgen und Probleme doch immer kleiner werden. Was zählt wirklich im Leben?

So nehme ich den Schmerz an meinem Zeh als Zeichen dafür, dass ich lebe und in diesem Leben der Schmerz genauso dazugehört, wie das Glück. Und nur wer auf dem Weg den Schmerz achtsam annimmt, wird am Ende des Weges das Ziel erreichen und die Antworten auf Fragen begreifen, die er vorher vielleicht gar nicht gestellt hatte.
Mittlerweile ist es dunkel geworden, die Flammen züngeln in die Luft, das Holz knistert, Fledermäuse sausen in atemberaubender Geschwindigkeit wie lautlose Schatten zwischen den Ästen umher. Die erste Nacht im Freien auf dieser langen Reise. Im Schlafsack ist es warm, doch der Boden ist hart. Schon jetzt vermisse ich mein weiches Bett, die vier Wände um mich herum und habe auch ein wenig Angst. Hier bin ich vollkommen auf mich allein gestellt. Keine Familie und keine Freunde, die mir zur Seite stehen. Keine Ver- oder Absicherung. All das hatte ich immer für selbstverständlich gehalten.
Ein Steinchen drückt an meinem Rücken, aber ich bin zu faul, das Zelt umzustellen. Es drückt von Minute zu Minute mehr. Es fühlt sich an als liege ich regelrecht auf Stonehenge. Eine Ahnung gewinnt in mir an Klarheit: Weisheit wird aus Mut gewonnen, Ängste zu überwinden und aus Verzicht heraus Dankbarkeit nicht nur zu denken, sondern auch wirklich zu fühlen.

Am nächsten Morgen schwinge ich nach dem zweifelhaften Genuss einer Tasse Dosensuppe den Rucksack auf meinen Buckel und ziehe weiter Richtung Süden. Es läuft sich schon ein bisschen leichter als am Tag zuvor. Mit jedem Schritt scheint die Sonne höher zu steigen, genauso wie meine Laune. Einsichten zeichnen sich dadurch aus, dass sie neue Blickwinkel eröffnen, starre Denkmuster der Vergangenheit lösen und dem Fühlen mehr Raum schenken. Vielleicht sind die Blickwinkel auch gar nicht so neu, sondern waren nur gefangen, zugedeckt von dem was wir Alltag nennen.
„In der Einfachheit liegt die Schönheit“ wusste schon Plato, der noch offene Ohren für den Zauber hatte, den Max Weber aus der Welt verbannen wollte.
Einen halben Kilometer entfernt sehe ich eine junge Frau auf demselben Weg, aber mit weniger Gepäck. Gleich werde ich sie einholen und freue mich schon darauf sie kennenzulernen, wenn wir beide unsere Last von den Schultern werfen…


© Copyright J. Renner 2021


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