Noch heute gibt es sie, diese Nächte, in denen ich vom Lied des Zuges erwache. Monoton und laut dringt die Melodie, die den Tod meiner Mutter begleitet aus meinen Erinnerungen in meine Träume, schwillt zu einem unerträglichen Lärm an und dringt somit in mein Bewusstsein. Der Gesang der Schienen, bei dem ich meine kleine Schwester aus den kalten Armen meiner Mutter nahm, ihren kleinen Körper an mich drückte und sie wiegte. Zwei Tage und zwei Nächte lang, bevor auch das Weinen meiner Schwester für immer verstummte. Zwei Tage und zwei Nächte, in denen eine fremde Frau, deren Baby verstorben war, meiner Schwester die Brust reichte.
Dieses Lied begleitete das Sterben meiner Mutter in dem heißen stickigem Container, unterbrochen von den letzten Herzschlägen von Adèl.
Als der Zug anhielt, war es einen kurzen Moment absolut still, dann brach ein infernalisches Chaos aus. Die Waggons wurden aufgerissen und Männer in Uniformen triebe uns aus den Containern, sie schrien, sie stießen und schlugen mit Stöcken auf jene ein, die von der Zugfahrt zu geschwächt waren, um den Weg schnell genug entlang zurennen. Männer in Sträflingskleidung entrissen den Menschen ihre Koffer und Bündel und trieben sie unbarmherzig voran. Hin zum Ende der Straßen und durch ein schmiedeeisernes Tor. Vereinzelt fielen Schüsse.
Der klang einer Gewehrkugel war mir bis zu jenem Tage völlig fremd, doch wusste ich sofort, welche Bedrohung von diesem Geräusch ausging. In meine Glieder schlich die Kälte, eine Kälte, die mich bis heute nicht vollends verlassen hat.
Ich drückte Adèls kleinen Körper fest an mich, so wie ich es bereits getan hatte, als wir eben noch rannten. Wütende Wachhunde knurrten und bellten. Ein großer Mann in einer grauen Uniform und weißen Handschuhen verteilte die Menschen in zwei Gruppen. Nach rechts und links in Reihen, um ihnen die Kleidung und die Haare zunehmen.
Wir waren an der Reihe, große Hände rissen das Baby aus meinen Armen und schleuderten es auf die rechte Seite, ich hörte wie Adèls kleiner Körper zu Boden fiel und ihr Schweigen, als ein Gewehrkolben auf ihren kleinen Kopf hernieder sauste.
Rechts, die aussortierten. Ihnen würde man nicht nur die Haare und die Würde nehmen, auch ihre Zähne und ihr Leben, würde ihnen entrissen werden.
Eine große Hand legte sich von hinten auf meine Schulter und eine Stimme sprach in jener bösen Sprache, die mir noch allzu vertraut werden sollte, getragen vom warmen Ton meiner Heimat.
Die Worte des Mannes waren es, die mein Leben retteten, als sie dem Mann in der grauen Uniform gegenüber, in der bösen Sprache, eine Lüge formulierten.
Ich blickte zu Joscha hinauf, in seinem Gesicht lag etwas, dass ich bis heute nicht zu beschreiben vermag. Seine Augen grüßten mich, als er mit seinem Finger an die Krempe seines Hutes tippte, den sieh ihm, mit all seinen anderen Wertsachen und seinen Haaren in nahe Zukunft nehmen sollten. In seinen Zügen lag ein Geheimnis, das ich niemals werde ergründen können. Aufrechter als die anderen Männer, mit denen wir nun vorangetrieben wurden, strahlte seine Gestalt eine Kraft und Würde aus, die er selbst im Tode nicht verlieren sollte.

Meiner Haare beraubt und in eine Baracke gepfercht, betrachtet ich all jene, die von nun an meine Mitbewohner sein sollten. Ich kauerte auf einem der „Etagenbetten“, die eng aneinandergereihten deutschen Kasernenbetten, erinnerten mehr an ein Lagerregal als an eine Schlafstätte. Auf Strohsäcken lagen, Körper an Körper, Männer und Jungen mit kahlen Köpfen und gestreifter Kleidung. Jene, denen die Eheringer mit den Fingern abgerissen wurden, erhielten von Menschen, die ihnen fremd geworden waren, jene notdürftige Bandagen, die aus Stofffetzen bestanden. Ich betrachtet die Nummer auf meinem linken Unterarm, die man mir unter die Haut gestochen hatte und die fortan meinen Namen ersetzen sollte. Ich hielt Ausschau nach Joscha.
Jenem Mann, der fähig war, die fremde Sprache zu verstehen. Jener, der mein Leben gerettet hatte, musste irgendwo in diesem Block sein. Zwischen den aufgereihten Männern und Jungen, die nunmehr nur noch durch ihre Größe zu unterscheiden waren. In mir errang schließlich die Müdigkeit den Sieg über die Kälte und den Hunger und ich fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf, der kurze Zeit später vom Signalton einer Sirene unterbrochen werden sollte. Sträflinge mit Trillerpfeifen stürmten in den Schlafsaal, um die Männer mit Schlägen und Brüllen zur Eile anzutreiben. Die Männer und Jungen sprangen von den Pritschen und ein hektisches Treiben brach los. Es blieb wenig Zeit für die Morgentoilette. Jene, die trotz des Aufruhrs auf ihren Pritschen liegen geblieben waren, wurden gemeldet und abtransportiert. Sie waren während der Nacht verstorben.

Ein lauwarmes Getränk wurde mir zugeteilt. Sie nannten es Kaffee. Ich betrachtete es eine Weile, mit dem aromatischem Getränk, das meine Großmutter Nagy in ihrem Garten zu sich genommen hatte, wies es keine Ähnlichkeit auf. Ich war durstig und fror und so trank ich es, was auch immer es gewesen sein mag.
Mein Körper jubilierte, als ich ein Stückchen hartes Brot herunterschlang, kurz bevor wir alle schon wieder weiter getrieben wurden. Auf den Hof des Arbeitslagers. Hier standen wir. Zu fünfen aufgereiht, in der Kälte des Morgens, der sich grau über die Umgebung legte und die Schrecklichkeit dieses Ortes, und seiner roten Ziegelgebäude, umgeben von Stacheldraht, offenbarte. Ich hielt wieder Ausschau nach Joscha und entdeckte ihn, unter all den „Zwillingsgestalten“, allein der Ausdruck seines Gesichtes unterschied ihn von den anderen Gefangenen. Sein Körper war zu seiner vollen Größe gestreckt und er wirkte ausgesprochen munter und gut gelaunt. Selbst nach Stunden die wir dort standen um gezählt zuwerden, war an ihm kein Anzeichen von Erschöpfung zu erkennen. Ich richtete mich ebenfalls zu meiner vollen Größe auf. Ich lauschte den Worten in der bösen Sprache.
Joscha wurde einem Arbeitszug zugeteilt, den sie „Steinbruch“ nannten. Ich beobachtete, wie ein Mann in einer grauen Uniform Joscha Worte entgegen brüllte. Dieser hielt den Blick seiner braunen Augen, auf die kalten blauen Augen des Aufsehers gerichtet. Als gäbe es nichts, dass er zufürchten hatte. Als wäre all der Schrecken an diesem Ort nicht existent. Für Joscha schienen die Schläge, die Schüsse, die Hunde, all der Tod und das Grauen nichts Bedrohliches zuhaben.
Als der Appell beendet war, setzte die Musik ein.
Ich fand mich mit anderen Jungen auf dem Hof des Lagers wieder.
Ich beobachtete ein paar Jungen, die Steinchen in ein Erdloch fallen ließen. Der Reim, den sie dabei sangen, hatte dieselbe Melodie wie der Zug auf den Schienen. Es war das Lied des Todes, das diesen Ort einzuhüllen schien. Die Jungen weihten mich in ihr Spiel ein. Sie nannten es Krematorium. Ein ungarischer Junge zeigte auf einen Schornstein und erzählt mir von jenen, die diesen Ort verließen. Die Kälte bemächtigte sich meinem Körper erneut.

So vergingen die Tage, die Sirene die mich aus dem Schlaf reißt, das Waschen verläuft hektisch, die Betten werden gemacht, die Toten abtransportiert. Dann folgt das Anstehen um den Kaffee, um hartes Brot, von dem es immer weniger gab, gefolgt vom Stehen und Gezähltwerden. Dann das Beobachten der Jungen beim Spielen, das Anstehen um eine dünne Suppe, aus verfaultem Gemüse zu Mittag, das Appell am Abend, das sich über Stunden hinzog und das Einschlafen zwischen den Fremden in der Baracke. Alle 14 Tage wurde mir Kleidung zugeteilt. In der Zeit dazwischen wusch ich von Zeit zu Zeit mein Hemd mit kaltem Wasser. Da es keine Möglichkeit gab es zum Trocknen aufzuhängen und ich nur dieses eine besaß, trocknete ich es, der Kälte zum Trotz, auf meiner Haut. Das Brüllen der Aufseher in der bösen Sprache dröhnte noch in der Nacht in meinen Ohren, in mir regte sich die ständige Angst, die alles in mir zu betäuben schien. Am Abend wurden die Verletzungen der Arbeiter versorgt. Jeder von uns spürte die Gefahr, von den Aufsehern, als Verletzter oder Kranker identifiziert zu werden, um in die Krankenstation überstellt werden zukönnen, von der niemals jemand zurückgekehrt war. Das Grauen bestimmte meinen Alltag. Zur Krankenstation waren auch die Jungen gebracht worden, die mir vom Rauch erzählt hatten. Über die Krankenstation gab es eben so viele schreckliche Geschichten, wie über den Rauch und als ich eines Morgens mit einer Gruppe Männern zum „Fotografieren“ gebracht werden sollte, stellte ich mir vor, wie der Fotograf den Auslöser drückte und dies der Moment sein sollte, in dem mein junges Leben endete. Viele Worte der bösen Sprache waren mir inzwischen geläufig geworden und alle, selbst wenn sie noch so harmlos klangen, schienen sie den Tod zu bedeuten. Unter den Männern die herumstanden um irgendwann im Laufe des Tages fotografiert zuwerden, entdeckte ich Joscha. Was von seinem linken Arm übrig geblieben war, nach dem er im Steinbruch gestürzt war und der Schlitten seinen Unterarm zertrümmert hatte, trug er in einer Schlinge vor der Brust. Er lächelte mich an und in seinen Augen funkelte der Mut, als wäre ihm nichts Schlimmes widerfahren, als könnte es nichts geben, dass diesen Menschen erschütterte. Der Schrecken dieses Ortes konnte ihm nichts anhaben. Tief in seiner Seele loderte die Flamme der Unsterblichkeit und ließ die Augen Joschas in einem erhabenen Glanz erstrahlen. „Ich bin die Nummer losgeworden.“ sprach er in der vertrauten Stimme unserer Heimat zu mir. Ich war froh ihn zusehen. Erneut spürte ich die vertraute, starke Hand auf meiner Schulter. „An dem Galgen, den der Kommandant errichten lässt, wird er selbst hängen“, flüsterte mir Joscha mit verschmitztem Lächeln zu. Der Schrecken und die Angst in mir machten diese Worte zu einer unumstößlichen Wahrheit. Es war eine Prophezeiung.
Ich wurde aufgerufen und fotografiert. Von vorne, von der Seite, mit meiner Kopfbedeckung und ohne sie. Als ich mich an die Leiste an der Wand stellen sollte, um meine Größe zu dokumentieren, fühlte ich wie der Tod seine kalte Hand um mein Herz legte. Ich hatte von den Messlatten gehört, die nicht dazu dienten die Körpergröße festzustellen, sondern dazu Menschen zu ermorden. Ich verließ den Raum durch eine Türe. Hier war er wieder, der SS-Arzt mit den weißen Handschuhen. Wieder teilte er die Menschen in Gruppen ein. „Desinfektion“„Krankenstation“ und „Arbeitseinsatz“.
Zukünftig sollte ich nach den morgendlichen Zählungen in eine Fabrik gebracht werden. Das Wort Fabrik tanzte verzaubert durch meinen Kopf. Es klang wie Erlösung. Es klang wie Leben. Das erste Wort, das ich an diesem Ort vernahm, das nicht nach Tod klang.
Ich sorgte mich um Joscha, dessen Körper für einen Arbeitseinsatz nun kaum mehr infrage kam.

Einige Tage später, als ich müde von der Arbeit auf meiner Pritsche in der Baracke lag, konnte ich in der Etage unter mir hören, wie ein Mann sich mit seinem Nachbarn über den Häftling mit nur noch einem Arm unterhielt. Er sprach von dessen Kenntnissen in der bösen Sprache, die ihm eine Arbeit in einem Büro der Nazis eingebracht hatten. Ein Dritter begann sich an dem Gespräch zu beteiligen und berichtete, dass dieser Kerl ein harter Hund wäre, bei einem Arbeitseinsatz im Steinbruch hätte er unablässig eine Melodie gepfiffen. Irgendwann war er deswegen niedergeschlagen worden, woraufhin er sich einfach wieder aufrichtete und seine Position am Schlitten wieder eingenommen hatte. Wieder auf seinem Platz zurückgekehrt, hatte er den Aufseher herausfordernd angeblickt, dabei hätten seine Augen diesen so starr fixiert, dass der Aufseher sich verstört zurückzog. Weitere Männer berichteten ganz unglaubliche Erlebnisse in der Nähe von Joscha gehabt zuhaben. Einer wollte gehört haben, dass Joscha sich absichtlich hatte, den Arm zertrümmern lassen, um in die Bürogebäude zu gelangen. Er hätte private Informationen darüber, dass Joscha an der Befreiung des Lagers, die in Kürze stattfinden würde, maßgeblich beteiligt sein sollte. Auf mich wirkten die Erzählungen der Männer so unglaubwürdig, wie die Geschichten der Jungen auf dem Hof, über den Rauch der aus den Schornsteinen aufstieg, jedoch veränderten sie die Gefühle in mir. Erstmals seit dem Tode Adèls wich die Kälte in meinem Inneren zurück, um der Hoffnung platz zu machen, die sich wie eine Pflanze, mit dem festen Willen zum Erblühen, aus dem Acker, den der Tod in meiner Seele gepflügt hatte, gen Himmel zurecken.
Als ich an diesem Abend einschlief, wusste ich, dass ich diesen Ort lebendig verlassen würde. Dass ich all die Mühen und den Schrecken nicht umsonst erdulden müsste, sondern mein Leben als Erwachsener in Freiheit begehen würde, auch wenn es vielleicht meine gesamte Jugend dauern könnte, bis ich diesen schrecklichen Ort, als freier Mann, verließ. Der Gedanke daran, löste auf meinem Gesicht das erste Lächeln, seit meiner Ankunft an diesem Ort, aus.

Mit der Zeit begannen sich die Männer der Baracke, allabendlich Geschichten über Joscha zu erzählen. Joscha, der Aufrechte, der sich unter all dem Schrecken des Lagers die Würde und Menschlichkeit bewahrt hat. Joscha, der den Aufsehern mutig ins Gesicht blickte und über Joscha, der sich absichtlich den Arm hatte zertrümmern lassen, um die Befreiung des Lagers zu organisieren. Joscha, der sein Brot hungernden Mithäftlingen gab. Joscha, der Obst und Kartoffeln an Kranke und Schwache verteilte. Das abendliche Geschichtenerzählen erfüllte die Herzen der Baracke mir Hoffnung und erschuf ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Bald schon wollten Männer Geschichten gehört haben, von den Heldentaten, die Joscha in der Zeit vor dem Lager begangen hatte.
Erzählungen in denen er schwangere Frauen aus brennenden Häusern rettete oder die Bewohner einer überfluteten Stadt, vor dem Tod im Wasser bewahrte. Getragen von der Hoffnung in der Baracke und dem Wunsch, an dem Zusammengehörigkeitsgefühl teilzuhaben, berichtete ich den Männern von meiner Ankunft im Lager und wie Joscha, an diesem Tag auch mein Leben gerettet hatte. Die Augen meiner Zuhörer füllten sich mit Tränen. Dass einer unter ihnen war, der bereits von Joscha gerettet wurde, verlieh den Geschichten eine neue Glaubwürdigkeit und Realität, wie sie nur von todgeweihten empfunden werden kann. Jeden Abend gesellten sich neue Gefangene zu den Zuhörern und an jedem Abend gab es neue Erzählungen über den mutigen Joscha. In der Baracke, in der er war, sollte es sonntags Sprachunterricht für die Kinder geben. Er würde sie in der deutschen Sprache unterrichten, damit sie ihr Leben und das ihrer Mitbewohner schützen konnten. In dem sie die Aufseher belauschen konnten und Vorkehrungen treffen.
Das Zusammensitzen und das Geschichtenerzählen veränderte die Stimmung in der Baracke, bald schon gab es weniger Konflikte und Kämpfe unter den Bewohnern und die Zahl jener, die am Morgen nicht erwachten ging leicht zurück.

An seltenen Abenden tauchte zusätzliches Essen in der Baracke auf. Mal ein Ring Wurst, den Joscha ihnen geschickt haben sollte, ein andermal Käse, der noch nicht verdorben war oder halbwegs frisches Obst, dass die Gefangenen allabendlich brüderlich untereinander aufteilten. Zu den Geschichten mischten sich bald Lieder und zu den Liedern Musik aus improvisierten Instrumenten. Joscha wurde zu einem festen Bestandteil der Baracke, und obwohl ich ihn, seit jenem Tag beim Fotografen, nicht mehr bei den Appellen habe ausmachen können, so behauptete stets ein anderer ihn hier oder da gesehen zuhaben. Immer mehr Gefangene standen aufrecht bei den Appellen und sahen den Soldaten mutig in die Augen. Die Baracke füllte sich mit Häftlingen und die Zahl derer, die nicht mehr vom Arbeitseinsatz zurückkehrten, stieg an. Ebenso die der gebrochenen Nasen, die der ausgeschlagenen Zähne und die der niedersausenden Gewehrkolben. Die Berichte über Erschießungen von Inhaftierten mehrten sich sowie die brennenden Berge aus menschlichen Körpern auf dem Innenhof des Lagers, deren Gestank nach brennendem Benzin und verbranntem Fleisch alle Hoffnung ersticken wollte. Der Ort, an dem ich meine Jugend verbrachte, bemühte sich den Schrecken des Alltags jeden Tag erneut zu übertreffen. Durch die harte Arbeit, das Appellstehen und den Hunger, war mein Körper schwach und in seiner Entwicklung gestört. Gelegentlich blieb einer meiner Zähne in dem harten Brot stecken und bald schon war ich sosehr an Schmerzen und Hunger gewöhnt, dass ich all jenes als Normalität hinnahm. In meinen Träumen sang der Zug sein schreckliches Lied. Die Zahl der Toten, die zum Abendappell zurückgebracht wurden, um gezählt werden zukönnen, stieg weiter mit jedem Tag und bald schon, verlor der Tod den Schrecken, den er mir seit meiner Ankunft im Lager eingeflößt hatte. Der Gebäudekomplex wuchs mit der Zahl der Gefangenen. Bald schon waren da keine Kinder mehr, die auf dem Hof des Lagers Krematorium spielten und schließlich hörte ich die Geschichte über Joschas Erschießung.
Die Geschichten über ihn hatten die Baracke längst verlassen und hatten die Aufseher des Lagers in Angst und Schrecken versetzt, die Hoffnung die wir aus den Erzählungen schöpften, standen dem Plan der Aufseher unsere Menschlichkeit zuvernichten entgegen. „Es hat sogar schon eine Revolte in einem der Krematorien gegeben“, erzählten sich die Gefangenen. Joscha wurde als Aufwiegler zum Tode verurteilt. Wie er dort an der Wand stand, sollen seine Augen noch immer geleuchtet haben, seine Haltung noch immer aufrecht gewesen sein, sein Blick noch immer mutig auf den Feind gerichtet. Schließlich zog man einen Sack über seinen Kopf, um seine Henker vor seinen durchdringenden Augen und diesem geheimnisvoll wissenden Lächeln zuschützen. Man sprach von einem Soldaten, der von diesem Blick zu eingeschüchtert war um auf Joscha zuschießen und deswegen, selbst als Deserteur hingerichtet werden sollte. Der Tod des Helden erschütterte die Baracke und auch mich. Als schließlich der Krieg verloren war und die Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schrecken des Lagers vor der Welt zu verbergen, und auch die Internierten aus dem Lager getrieben wurden, lies man mich auf der Erde liegend zurück, als ich hinfiel und nichtmehr die Kraft hatte aufzustehen. In meinem Kopf sang der Zug sein monotones Lied vom Tod und führte mich, so tief in mein Inneres, dass mich ein jeder, wenn man mich untersucht hätte, als Tod hätte liegen lassen müssen. So blieb ich, in der Aufregung der Räumung auf der schlammigen Erde des Lagers zurück, ich blieb dort im Regen einfach liegen. In meinem Inneren erklang das Lied des Todes und Joschas mutige Augen blickten mich an. So unerschütterlich blickten sie aus einem Gesicht, das den Schrecken des Lagers verhöhnte, indem es noch immer lächelte. Für zwei Tage lag ich dort, mit dem Gesicht zur Seite gedreht im Schlamm, bis mich schließlich eine Kompanie der Roten Armee aufrichtete und einer der Soldaten bemerkte, dass ich noch atmete.


© thecutelittledead


2 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher


Beschreibung des Autors zu "Das Lied des Todes"

Eine Erzählung von Kovács Kristóf, aus dem Ungarischen übersetzt von dead Meiki http://edition.cnn.com/2015/01/23/world/art-auschwitz/

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Das Lied des Todes"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Das Lied des Todes"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.