Es ist Abend. Ein wundervoller Tag geht für die Neandertalersippe, vor ihrer Höhle stimmungsvoll zu Ende. Heute ist niemand verletzt worden, alle sind wohlauf. Die Männer sind stark, die Weiber schwanger – man kann optimistisch in die Zukunft blicken! Es geht hoch her. Fast alle erwachsenen Männer haben sehr tiefe Stimmen. Ihr Brüllen hört sich beängstigend an…allerdings nicht für die Sippenmitglieder. Die sind das gewöhnt. Ihre Sprache ist arm. Nur das Allerwichtigste kann durch sie ausgedrückt werden. Auch die Frauen haben laute Stimmen. Ihre Tonleiter geht vom durchdringenden Kreischen bis zum tiefen Murmeln. Ihren Nachwuchs betreuen sie gut. Alle Sprösslinge sind bestens beaufsichtigt. Und das Beste an diesem Abend ist: es gibt etwas Feines zu essen!

Die größeren Kinder spielen gerade damit. Sie jagen das stöhnende Wesen, das zwischendurch Schutz, bei einer der grau-braunhäutigen Frauen zu finden versucht, von einem Feuer zum anderen. Es ist ein halbwüchsiger Gro-Magnon-Junge, dem seine streitbaren Jäger einen Fuß mit dem Steinbeil zertrümmert haben, damit er nicht fliehen kann. Sicherheitshalber haben sie ihm auch noch gekonnt 3 Rippen gebrochen – sicher ist sicher…nicht daß er den eigenen Kindern noch was antut. Wenn die Kleinen ausgiebig erprobt haben wie man Gro-Magnon erlegt, wird er gegart und gegessen. Man hat reichlich Erfahrung mit diesem, erst kürzlich aufgetauchten, Wild gemacht – es schmeckt ausgezeichnet, ist aber sehr gefährlich! Die brüllenden Männer haben ihren weniger erfahrenen Nachwuchsjägern deshalb verboten, sich alleine an eine Gro-Magnon Familie heranzuwagen.

Am besten man fängt ihre Frauen, oder die Kinder beim Sammeln von Beeren und Kräutern im Wald, oder man erlegt sie auf freiem Feld, wenn sie gerade alleine verträumt vor sich hinschlendern. Diese gefährliche Veranlagung muss man ausnützen! Neandertaler sind niemals verträumt! Sie sind sehr viel „erwachsener“ als die Gro Magnon, sie wissen immer worauf es ankommt: auf den Erhalt des Stammes und auf den Erwerb von Nahrungsmitteln, wie auch die nötige Kleidung. Darin sind sie unermüdlich und sehr geschickt. Aber sie lachen niemals! Sie sind todernst, unromantisch, absolut sachlich und nüchtern. Eine Vollmondnacht bedeutet ist für sie nicht inspirierend, um vielleicht darüber zu fabulieren, wie es wohl wäre, wenn der Mensch fliegen könnte wie ein Vogel. Ein Vollmondnacht ist nur heller als andere Nächte und bietet mehr Schutz vor Überfällen.

Denn Überfälle finden neuerdings viele statt. Immer wieder treffen die Neandertaler auf die Reste ermordeter, verwandter Familien, die Racheakten der Gro-Magnon zu Opfer fielen, nur weil sie hie und da einen von ihnen gegessen hatten. Die Neandertaler ließen sich davon jedoch nicht beeindrucken. Jeder ihrer Männer war stark wie ein Bär und nahezu schmerzunempfindlich – im Gegensatz zu diesen verweichlichten Eindringlingen, die ihnen, so gut es ging aus dem Weg gingen. Doch sich Jagdreviere zu teilen und derart unterschiedliche Lebensauffassungen zu haben, das war sehr sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Die Zeit würde zeigen wer die Oberhand behalten würde. Bislang sprach alles für die Neandertaler, deren natürliche Überlegenheit offensichtlich war.

Denn trotz der besseren Bewaffnung der Gro-Magnon, schien das Neandertaler-Prinzip einfach das effizientere zu sein. Sie brauchten nur sehr wenig zum Überleben, sie hatten keine Ansprüche, ihre Weiber hatten absolut nichts zu sagen – sie mussten herhalten, wenn es die Jäger in der Leistengegend juckte – und ihre Kinder waren alles andere als verwöhnt. Einen Neandertaler konnte man praktisch nur aus der Distanz umbringen, mit, für damalige Verhältnisse weitreichenden, Speerschleudern, die auch größere Tiere ernstlich verletzen oder gar töten konnten. War der Urmensch aber schon halbtot, dann konnte man ihn leicht mit einer Keule erschlagen. Die Frauen der Gro-Magnon waren manchmal geradezu wild darauf dies zu tun, besonders wenn sie schon einmal von solch einem Unhold vergewaltigt worden waren und sie anschließend fliehen konnten, bevor er Gelegenheit fand sie zu erwürgen.

Denn die Frauen der Gro-Magnon waren von jeher stolz und anspruchsvoll. Sie konnte man nicht einfach so schwängern, ohne sich vorher als guter Krieger, Jäger, Spurenleser, oder Handwerker erwiesen zu haben. Deshalb vergriff sich ein Gro-Magnon Mann auch gelegentlich an einem noch nicht ausgewachsenen Neandertaler Mädchen, das man nicht gleich mit abschlachten wollte, wenn man auf Rachefeldzug war. Die sahen manchmal schon ein wenig menschähnlich aus, ohne die später überdimensional große und breite Nase und die mächtigen Überaugenwülste – klein wirkten sie noch direkt putzig. So wurden schon früh die Anlagen zur Perversion gelegt, an der spätere Gesellschaften scheitern sollten. Denn am Ende siegten dann doch die einfacheren Ausführungen der Gattung „Mensch“.

Doch davon war an diesem wundervollen, lauen Sommerabend, im Europa des Neandertalers, vor 40 000 Jahren, noch nichts zu spüren. Die Kinder vertrieben sich die Zeit mit Lernspielen am lebenden Objekt, die Männer brüllten laut in der Gegend herum, die Weiber kreischten, vor allem wenn sie gerade genommen wurden, und es gab Gro-Magnon-Fleisch, die zarteste und wohlschmeckendste Versuchung dieser Epoche. Außerdem würde es wohl eine Vollmondnacht werden. Man konnte also relativ beruhigt schlafen, denn Bären und fremde Krieger würden sich wohl kaum bis zu den Feuern der Sippe wagen, wo sie schnell erkannt und erschlagen werden konnten. Der trotzdem aufgestellte Wächter blickte mit funkelnden, dunklen Augen in die Landschaft hinaus, die jetzt im roten Schein der untergehenden Sonne lag.


© Alf Glocker


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