Das Wetter ist gut, leuchtend blauer Himmel spannt sich von einem Ende der Straße zum anderen. Ich flaniere den Boulevard entlang und lächle! Die Vernissage war prima! Die Gespräche dort haben mich als Mensch befriedigt. Viele angenehme Leute ließen eine wunderbare Atmosphäre entstehen. Gedankenverloren sehe ich mir eines der vielen Schaufenster an – was es doch alles Schönes zu kaufen gibt … Als ich mich umdrehe, bleibe ich, wie vom Donner gerührt, stehen:
Ich schaue mitten ins Gesicht einer faszinierenden Schönheit! Habe ich sie nicht schon auf der Vernissage gesehen? Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Sie strahlt mich an, ihr Blick dringt bis auf den Grund meiner Seele! Wir können beide nichts sagen, aber anscheinend ist auch diese sehr attraktive Frau von mir angetan.
Wie mir geschieht, weiß ich nicht, was sie weiß, kann ich mir ebenfalls nicht vorstellen, aber ich nehme einfach ihre Hand – sie fühlt sich unglaublich fein und vertraut an – und führe sie meinen Nachhauseweg entlang. Eine Engelsstimme, die von ihr gekommen sein musste, sagt einfach: „Gut!“ In ihrem schulterlangen Haar flirrt das Sonnenlicht. Immer, wenn ich sie ansehe, schwebe ich.
Als sie eine endlose halbe Stunde später endlich nackt vor mir steht, möchte ich fast weinen, so schön ist sie, aber das geht gar nicht, denn ich werde nicht mehr fertig damit, sie anzusehen. Sie ist eine Lichtgestalt! Ich mache einen Schritt auf sie zu und lege meine Lippen auf ihre Lippen – sie öffnet den Mund. Ihr Frühling elektrisiert meine Sinne! Das Leben durchzuckt meine Adern.
Ihre Wärme nimmt mein ganzes Wesen für sich ein. Das ist die Wahrheit‘, denke ich, und ich möchte ein Teil dieser Wahrheit sein!
Sie zieht mich aufs Bett, in sich hinein, sie ist zu allem bereit. Ihr Vertrauen ist mein Vertrauen. Ich bin zuhause! Es ist mir völlig egal, wer sie ist, denn sie ist makellos, weil sie mit mir verschmelzen möchte. Diese innige Nähe kann keine Täuschung sein!
Dann erwache ich. Das Zimmer ist dunkel und ich habe die Bettdecke weggestrampelt. Ich spüre Nässe! Habe ich womöglich ins Laken gepinkelt? Ich knipse das Licht an und – schreie! Ich liege in einem See von Fäkalien! Von der Decke hängen jahrhundertealte Spinnweben. Alles ist feucht, kalt und ungemütlich. Nirgends ist eine Türe zu sehen. Was ist das, wo bin ich? Hat man mich entführt, betäubt und beraubt?
Mein Puls beschleunigt sich rasant! In Panik haste ich über den schmutzigen Fußboden durch das Zimmer. Vielleicht ist ja irgendwo eine Geheimtüre, hinter dem Kleiderschrank zum Beispiel. Obwohl es meinem Schlafzimmer schon etwas ähnlich sieht, kann ich nicht glauben, daß es sich tatsächlich auch darum handelt. Die Tempera-tur nimmt jetzt schnell ab. Mein Atem bildet kleine Nebelwolken vor dem Mund. Ich muss hier raus!
In meiner Verzweiflung zertrümmere ich mit der Faust eine Schranktüre und erwache von dem Knall! Endlich! Ich sehe mich um: wieder alles feucht! Das ist doch ein Schützengraben! Granaten explodieren um mich her, Leichen liegen im Schmutz. Von fern tönt Gebrüll, das immer näher kommt. Werden wir – sprich, werde ich, denn außer mir sind hier nur noch Tote – vom Feind angegriffen?
Ich wage einen Blick auf das Schlachtfeld. Tatsächlich, blutverschmierte Gestalten schwingen bereits in 50 Metern Entfernung das Bajonett! „Das soll die Wirklichkeit sein …?“, murmle ich und erwache!
Diesmal ist es wirklich mein Schlafzimmer. Die Bilder an den Wänden lassen keinen anderen Schluss zu, aber was heißt das schon?! So langsam habe ich keine Hoffnung mehr, wieder dort anzukommen, wo ich heute Nacht eingeschlafen sein muss. Trotzdem beginne ich, meine Gedanken zu sortieren.
Was wollte ich denn heute tun? Ach, ja, jetzt fällt mir wieder alles ein. Meine Arbeiten erwarten mich, aber etwas ist seltsam: Mein Körper fühlt sich an, als wäre jedes einzelne meiner Glieder 10 Zentner schwer. Den Weg zum Frühstückstisch schaffe ich kaum. Ich komme einfach nicht vom Fleck, und dann dieses komische Gefühl ... Ich komme mir vor, als steckte ich in einer unsichtbaren Zwangsjacke!
Dazu glaube ich noch, einen Knebel im Mund zu spüren und mir ist, als sei ein Klebeband um meinen Kopf gewickelt. Aber zu sehen ist davon nichts! Ich starre verständnislos in den Toilettenspiegel im Badezimmer.
Mein Frühstück schmeckt schal, draußen ist es auf eine ganz besondere Weise grau – obwohl die Sonne scheint. Und ich friere, obwohl es eigentlich sommerlich heiß ist. Es gelingt mir nicht, Auskunft darüber zu geben – aber ich begreife so langsam, daß dies die Realität sein muss!

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 343. Schritt

© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 343. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 343. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 07.10.2022 11:34 Uhr

Kommentar: Hier war wohl der Wunsch, der Vater des Gedanken. Ein Alptraum das Erwachen.

Lieber Alf, ganz wunderbar, spannend und aufregend geschrieben.
Sehr gerne gelesen. :-)

Herzliche Grüße aus dem begeisterten Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 343. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 07.10.2022 16:26 Uhr

Kommentar: Vielen herzlichen Dank!

LieGrü aus dem träumenden Süden
Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 343. Schritt

Autor: Jens Lucka   Datum: 07.10.2022 20:49 Uhr

Kommentar: Lieber Alf, vor kurzem hatte ich einen Traum, da ich dem Tode so gerade von der Schippe sprang, als ich bei einem Absturz aus einem Fahrzeug gerade noch halt an einem Ast fand, was mir das Leben rettete. Tagelang hatte ich diesen Beigeschmack, was mir dieser Traum wohl sagen wollte...
Haste super verfasst, finde ich.
(Deine Texte sind wirklich gut, jedoch irgendwie immer so lang, Hihi..., entschuldige bitte)

Herzliche GRüße von Jens

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 343. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 08.10.2022 11:21 Uhr

Kommentar: Der Traum, öieber Jens ist irgendwie auch tröstlich. Anscheinend hast du dich vor irgendwas noch mal gerettet...

Danke fürs Lob - manchmal schaff ichs einfach nicht kürzer

Herzliche Grüße zurück
Alf

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