Wie stelle ich es an, eine geschickte Nichtaussage zu treffen? Kein Problem – das Leben ist ein einziges Verhör! Jeder wird täglich geprüft, ob er was begriffen hat. Alle Enttarnten müssen vergiftet werden! Dafür stehen höhere Dosen an Falschmeldungen an – oder entsprechende Kurse zum Weglernen der Wahrheit in Volkstiefschulen – wie an öffentlichen Verlautbarungen oder wissenschaftlichen Behauptungen, die immer richtig sind, weil sie sich auf nichts Genaues beziehen: auf Nichtaussagen!
Die neuesten Trends sind am besten in der Kunst ablesbar, wo es neuerdings wieder dem einen oder anderen Könner gelingt, ungestraft etwas zu leisten. Er darf darstellen, was er will. Nur einen Hintergrund darf das Dargestellte leider nicht haben, weil sonst jemand auf den Gedanken kommen könnte, sich Sorgen machen zu müssen. Alle Teilnehmer am Kulturbetrieb werden daher gebeten, entweder nichts Bestimmtes zu sagen, oder praktischerweise lediglich das, was man hören möchte. In der Regel sind das völlig unverfängliche Motive!
Die feine Gesellschaft, die sich hauptsächlich darauf beruft, anständig dastehen zu wollen, indem sie unverfängliche Motive und Themen bevorzugt, verlangt geradezu nach dem Schweigen in allen Belangen, die ihren Status erschüttern könnten. Das Leben soll weitergehen wie bisher! Falls es sich doch einmal abrupt ändern sollte, möchte sich jedermann davon überraschen lassen und gefälligst nicht vorher von irgendwelchen Naseweisen erfahren müssen, was demnächst passieren wird. Das verstößt gegen sämtliche Regeln des guten Benehmens – und es bringt arme Hirne in Gefahr, sich nonkonformistischen Gedanken aussetzen zu sollen.
Subjekte, die es demnach wagen sollten, mithilfe der gemeinen List – und sei sie auch noch so gut gemeint – geistig arme Leute auf Lügen aufmerksam machen zu wollen, indem sie in der Betrachtung eines Bildes oder bei der Konsumierung eines Textes graue Zellen anregen, sind unverzüglich zu verurteilen. Es kann nicht angehen, daß wir uns einem Diktat kreativer Gedanken zu beugen haben! Viel lieber verbieten wir doch denjenigen sowohl Mund, Feder wie Pinsel, deren Vorhaben pädagogisch ist und ungeahnte Eigeninitiativen in Sachen „freies Denken“ nach sich ziehen könnte. Das ist nicht gentlemanlike! Das ist unfair!
Man kann nicht bei jedem voraussetzen, daß er sich mit etwas belasten möchte, das ihn beunruhigt. Nicht jeder ist ein begeisterter Pessimist. Als Pessimisten bezeichnet man doch Leute, die Zeichen richtig deuten können, aber trotzdem weiterhin auf eine Zukunft hoffen – nicht wahr? Optimisten dagegen sind Menschen, die sich über alles freuen können, und sei es noch so furchterregend. Die genießen den Augenblick, den Tag und die Nacht, die zeigen gutes Benehmen, wo immer sie sind.
Niemals würden sie es wagen, Sinn und Inhalt in Kunstwerken zu suchen. Ja, sie würden dort nicht einmal welche vermuten. Nichtaussagen sind ihr Metier – jedenfalls, wenn man Jedermann danach befragt. Und Jedermann irrt sich nicht. Oder habe ich mich geirrt und ein landläufiger Optimist ist ganz anders gestrickt? Wie auch immer: Kassandra ist des Landes verwiesen, oder als Hexe verbrannt worden, die Büchse der Pandora hat es nicht gegeben, gibt es nicht, wird es niemals mehr geben – wird es niemals gegeben haben … wollen!

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 284. Schritt

© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 284. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 284. Schritt

Autor: Michael Dierl   Datum: 22.06.2022 11:25 Uhr

Kommentar: Tja, da hast Du ein echt wichtiges Thema angesprochen. Ich warte auf den Tag an dem ein Künstler sich selbst zum Objekt macht, seinen Mund zuklebt, mit seinen selbst zerbrochenen Pinseln eine weiße Fläche nicht bemalt, seine beiden Arme in Gips bindet und neben seinem ICH ein kleines Schild anbringt, dass er ein Eber sein soll, der vom Mars komme und sich als Kunst-Objekt präsentiert! Ob sie ihn gewähren lassen.......?

lg Michael
ps: Klasse Text! Bin begeistert!

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 284. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 22.06.2022 12:43 Uhr

Kommentar: die Aktion käme wahrscheinlich an!

LG Alf

Danke dir!

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 284. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 22.06.2022 12:46 Uhr

Kommentar: Genial geschrieben, lieber Alf,
interessanter Text, regt zum Nachdenken an!!
Ebenfalls das Bild!!!

Herzliche Grüße aus dem nachdenklichen Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 284. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 22.06.2022 15:23 Uhr

Kommentar: LieGrü
Alf
und Dank!

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 284. Schritt

Autor: Kathleen   Datum: 05.07.2022 20:17 Uhr

Kommentar: Lieber Alf,

da ist was wares dran. Gut geschrieben. Deine Bilder sind einfach toll.

Liebe Grüße

Kathleen

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 284. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 06.07.2022 6:59 Uhr

Kommentar: Danke dir liebe Kathleen!
Liebe Grüße
Alf

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