Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 279. Schritt

© Alf Glocker

Jedes Mal, wenn ich überhaupt nicht mehr weiter weiß, bin ich versucht, nach harten Drogen zu greifen! Ich bin mir dann zwar immer bewusst, was das für Folgen haben kann, aber ich habe ja keine Wahl. Ich brauche jetzt Stoff! Dann muss es beispielsweise die Bibel sein, der Koran, das Kamasutra oder ähnlich betäubende Anleitungen. Die Möglichkeit, daß ich nach deren ausgiebigem Genuss den Verstand nicht mehr wiedererlange, ignoriere ich. Vielleicht ist eben doch eine Bewusstseinserweiterung möglich. Behauptet wird ja so manches ...

Kürzlich musste es eine wissenschaftliche Schrift sein, die sich mit der Gleichheit menschlicher Begabungen bei gleichen Bildungsmöglichkeiten befasst. Gehört hatte ich vorher, Pferd sei nicht gleich Pferd, Hund nicht Hund, auch, daß es eine natürliche „Zuchtwahl“ gebe. Des Weiteren hatte man mir aber versprochen, der Mensch sei von allem ausgenommen, weil er … weil er … weil er eben ein Mensch sei, und Menschen seien von allem ausgenommen, weil Menschen von Geburt an gleich seien. Das gefiel mir, und es machte mich gewissermaßen high!

Ich freute mich, denn ich fühle mich selber als Mensch, wie ich mich auch freute, daß somit alles auf der Welt in Ordnung sei, oder spätestens dann in Ordnung käme, wenn das alle begriffen hätten, doch dann tat der Stoff seine Wirkung und ich fiel in eine tiefere Trance! Ich schwebte engelsgleich durch imaginäre Bildungsstätten, wo ich mich verliebte – in die Wissenschaft, noch einmal in die Bibel, noch einmal in den Koran und das Kamasutra, worauf ich wusste, was mir heilig zu sein hatte! Ich war wieder zum Kind geworden!

Mein erster Schultag brach an. Das helle Licht menschlichen Wissens, angehäuft in geradezu göttlich verordneten Schüben, kam wohltuend auf mich zu. Und tatsächlich: Mein eigenes Hirn setzte aus! Ich dachte nicht mehr selber nach, ich ließ denken. Und als wir, wie alle Schulanfänger, danach gefragt wurden, was wir denn zu können verlangten, da hörte ich den anderen aufmerksam zu. Sehr häufig geriet ich dabei ins Staunen. Mein Banknachbar, den ich draußen im Wald kennengelernt hatte, wo er mit den Bäumen Fangmich spielte, ein gewaltiges Monstrum mit riesigem Knochenbau, wollte Dichter werden. Ein ganz kleines, schmächtiges Kind, zwei Bänke hinter uns, verriet mir, er sei in 20 Jahren Weltmeister im Gewichtheben.

Dann gab es noch einen, ein auffällig rundliches Kind mit sehr kleinem Kopf, der sich nur ein Leben als Astrophysiker vorstellen konnte. Ein Weiterer, mit unglaublich großen Händen, stellte sich vor, er würde später einmal unglaublich komplizierte Bilder malen, ein anderer Junge, dessen Eierkopf von vorneherein auffiel, einer mit zarten Händen und einer feinen Physiognomie, fühlte sich zum Straßenbau hingezogen und ein schielender Zwerg mit starken Überaugenwülsten und einem beachtlichen Haarwuchs, träumte von Herztransplantationen! Ich selbst bildete mir ein, später einmal afrikanische Tänze zu studieren. Ein eher bescheidenes Vorhaben, wie ich mir irrtümlich vorstellte.

Mein Trancezustand nahm langsam konkrete Formen an: Ich schwitzte und gab alles. Meine Leidenschaft für die höheren Weihen dessen, was man denken durfte, erfüllte mich total, und ich hatte den Eindruck, mich ganze Jahrzehnte schwindlig geträumt zu haben. Als ich innehielt, um die Ergebnisse des fleißigen Lernens innerhalb des Systems „Gleiche Bildung für alle“ zu betrachten, fiel mir fast die Seele aus dem Leib, denn das gewaltige Monstrum sagte, als es mir entgegenkam: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“, das schmächtige Kind, mittlerweile zum schmächtigen Erwachsenen geworden, hielt mir eine Urkunde unter die Nase, die es als Weltmeister im Gewichtheben auswies, das ehemals rundliche Kind mit dem sehr kleinen Kopf – es hatte nun immer noch einen sehr kleinen Kopf, war jedoch rundlich geblieben – rief mir fröhlich zu: „E=mc2“.

Der mit den großen Händen und den Fingern, dick wie bayerische Weißwürste, hielt einen Haarpinsel auf eine Leinwand gerichtet, auf der ein wunderschöner Hase in allen Details zu sehen war, der Eierkopf mit der feinen Physiognomie präsentierte mir mit letzter Kraft einen Presslufthammer und der mit den gewaltigen Überaugenwülsten und dem ungeheuren Haarwuchs schaute mit blutunterlaufenen Augen auf ein Herz, das er gerade zu transplantieren beabsichtigte. Ich verbeugte mich tief vor allen meinen Schulkameraden, erschrak aber sofort, als ich versuchte, einen afrikanischen Tanz zu beginnen. Ich duckte mich, ich hüpfte hoch, ich drehte meine Hüften, rief „umba, umba, umba, täteräh!“, aber alles an mir sah künstlich aus! Ich hatte es als Einziger nicht geschafft!

Das war zu viel für einen einzelnen Versager! Ich erwachte, zitternd vom Schock der Ernüchterung, und fing zu weinen an. Was hatte ich getan?! Ich hatte mich erneut an einer Droge vergriffen, die ich, bei voll gleichbleibender Gesundheit, nicht richtig verarbeiten konnte. Denken lassen, ohne eine Überprüfung des Lehr-Stoffs mittels Kritik und Selbstkritik, konnte ich einfach nicht vertragen! Die Einsicht jedoch kam viel zu spät. Ich war bereits stark geschwächt und konnte mich nur noch mit großer Mühe aufrecht halten. Lange Zeit ging ich gebückt, erschrak vor den Leuten auf der Straße, da ich Angst hatte, sie würden mir weitere Drogen anbieten wollen. Ich sah mich von Dealern umringt!

Noch monatelang hatte ich mit meinem Entzug zu tun. Ich sperrte mich ein, weg von der Welt, und schrie, nein, ich flehte um Erlösung durch eine weitere „Geistesspritze“, die mir half, die Welt zu verstehen – aber ich nahm nichts dergleichen mehr in mich auf. Ich blieb standhaft, und schließlich war ich auch endlich wieder frei. Die Bibel, den Koran, das Kamasutra oder wissenschaftliche Schriften, die von sich behaupten, keine Theorien, sondern wahrhaftig zu sein, lese ich zwar, aber lediglich mit einem Auge. Mit dem anderen blicke ich in mein Inneres und versuche herauszufinden, ob mir grade schlecht wird.

Heute wirke ich im Spiegel wie um Jahrhunderte gealtert – hatte sich doch ein Teil Wahrheit vor meinen Augen abgespielt. Nun weiß ich endlich, wie unmöglich auch sie zu ertragen ist, wenn man ein gehöriges Maß davon konsumiert. Deshalb bleibe ich bescheiden und glaube selbst mir bloß noch in krassen Ausnahmefällen!


© Alf Glocker


2 Lesern gefällt dieser Text.


Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 279. Schritt"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 279. Schritt"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.