Das Land der Fantasie ist weit, weit wie das Feld der Gedanken und seltsam, ebenso wie die Realität, die sich durch die Straßen wälzt wie ein wütender Mob. Hin- und hergerissen treibe ich auf den Fluten des Mobs und, beflügelt durch die Fantasie, in den Abgrund des Seins, um zu erleben, was grade ansteht.
Bei manchem allerdings lege ich mich quer, wobei ich nicht lange überlegen muss, ob dieses Querlegen eine Olympische Disziplin ist oder einfach ein Denkergebnis – ich weiß einfach seine Notwendigkeit! Es ist nicht zu fassen, wie sehr ich mich dabei anstrengen muss!
Bevor ich jedoch querlege, bemühe ich meine Vorstellungskraft und lasse mir von ihr vor Augen führen, was passiert wäre, wenn … ich z.B. mitgemacht hätte. Hier eine solche Geschichte: Kürzlich war ich gewissermaßen als Wal-Helfer unterwegs, beim Wähl-Watching, und habe dort versucht, mehr über mich herauszufinden.
Das nahm alles seinen Anfang, als ich mich plötzlich in diesem Leben wie Jonas fühlte. Irgendetwas – so sagte ich meinem virtuellen behandelnden Arzt – habe mich verschluckt, und ich käme mir dabei so hilflos vor. Hier, in diesem magenähnlichen Gebilde, falle mir die Decke auf den Kopf. Das aber sei nicht einmal dem Wal, der mich verschluckt habe, zuzumuten. Vielleicht bekäme er noch Krämpfe davon …
Der virtuelle behandelnde Arzt griff auf seinen Kopf und zeigte mir etwas: einen Faden. Er ging von der Schädeldecke aus nach irgendwohin. „Der Faden erzeugt die irrige Annahme, man sei verschluckt worden“, verriet er mir. „Ich trage ihn seit meiner Geburt.“
Ich staunte nicht schlecht und rief: „Das gibt‘s ja gar nicht!“ Doch der virtuelle behandelnde Arzt ließ sich nicht beirren. Er komme sich dabei aber nicht komisch vor, behauptete er, und fügte auf meine Frage nach seiner Herkunft hinzu, es amüsiere ihn vielmehr, wieso ich herausfinden wolle, woher der Faden käme.
„Das ist eben so“, meinte er lakonisch, „wir kommen alle mit diesem Ding zur Welt.“ Er entstünde ungefähr zeitgleich mit dem Durchschneiden der Nabelschnur – und in manchen Ländern sei es schon gar kein Faden mehr, sondern eine Schnur oder sogar ein armdickes Tau! Und trotzdem käme sich dort keiner vor, als sei er von einem Wal verschluckt worden. Wenn ich aber so geil darauf wäre zu erfahren, was es damit auf sich habe, dann solle ich mich doch einmal beobachtenderweise hinter einer Urne verstecken.
„Nicht auf dem Friedhof“, ergänzte er weise, „da sind sie nämlich schon wieder abgefallen, die Fäden, doch obwohl …“, schränkte er ein, „Spuren davon müssten eigentlich immer noch sichtbar/fühlbar sein. Gehen Sie einfach in ein Wahllokal!“, versetzte er trocken.
Ich schaute gewiss drein wie ein frisch geficktes Eichhörnchen, denn er ergänzte es zum Schluss jovial: „Na, da können Sie doch dann aus den Gesichtern die Erwartung herauslesen.“ Ich verstand gar nichts mehr.
Wahrscheinlich, weil mich diese Hinweise nicht befriedigten, erlosch die Vision vom virtuellen behandelnden Arzt und ich bemerkte, daß ich mich in meinen gewohnten vier Wänden befand und Gedanken sortierte. Ich hatte sämtliche Schubladen geöffnet und versuchte, in einem Sammelsurium an Damenunterwäsche, angestaubten Schulzeugnissen, Liebes- und Drohbriefen, alten Schuldscheinen und ein paar Banknoten zurechtzukommen. Auch etliche Skizzen und Notizen kamen mir in die Quere. Darunter eine Art „Schatzkarte“, auf der ich vor vielen Jahren einst verzeichnet hatte, wo sich meine (nur einmal gebrauchte) Kristallkugel befand, die ich für das größte Kleinod der Vernunft hielt.
Ich studierte die Schatzkarte ausgiebig und entschlüsselte schließlich ihren Aufenthaltsort.
„Im Tempel der Unzugänglichkeit findest du die Lupe, um zu sehen, was du 1. gar nicht sehen willst und was 2. ungesehen bleiben möchte.“
Erneut stutzte ich, doch dann leuchtete mir ein, daß damit bloß die herzförmige Truhe mit doppeltem Boden im tiefsten Keller gemeint sein konnte. Dort hatte ich sie, glaube ich, versteckt. Der doppelte Boden war damals meine „Kindersicherung“ gewesen. Denn als ich sie zum letzten Mal benutzte, war ich ja noch ein Kind gewesen. Damals sah ich unvoreingenommen hinein und fiel sofort in ein Trauma, dem ich mich allein durch eifriges Kopfnicken – immer dann, wenn eine erwachsene Respektsperson zu mir sprach – wieder entziehen konnte.
Um nicht gänzlich abzudrehen, ist daher dieses Instrument des Wahnsinns, das Wahnsinnsinstrument, vor mir selber bis zum heutigen Tag verschlossen geblieben. Und hätte mich niemand auf diese obskuren Fäden aufmerksam gemacht, an denen ich jetzt selber in aller Deutlichkeit hängenbleibe, während ich die Nachrichten im Fernsehen anschaue, dann wäre es wohl auch dabei geblieben: vergeben, vergessen, verraucht …
Sollte ich nun – oder sollte ich nicht – mich noch einmal diesem Horror der „anderen Sichtweise“ aussetzen? Ich nahm mir ein Herz und öffnete die Truhe! Darin prangte und blinkte sie vor meinen Augen, und als ich sie näher betrachtete, erblickte in ihrem Inneren vorerst nichts als nur Fäden. Sie zogen sich durch das ganze Universum …
„Strings“, schoss es mir durch den Kopf. Strings in meinen Herzensangelegenheiten! Sie waren überall! Schon versuchte ich, mir wieder den behandelnden Arzt vorzustellen, als die Situation eine philosophische Eigendynamik bekam und meine Hände wie von Geistern gesteuert nach der Kugel griffen. Dann ergriff sie von meinen Augen Besitz!
Mehrere Filme liefen jetzt gleichzeitig nebeneinander ab. Auf engstem Raum vollzogen sich die Spektakel der Weltgeschichte. Plötzlich umgab mich die Kugel – ich war in ihr – und sie zeigte mir, was an den Enden der Fäden hing. Dschingis Khan kam an der Spitze eines riesigen Heeres über die Steppe geritten. Alle Fäden über den Reitern hatten sich zu einer borealisähnlichen Lichterscheinung vereinigt. Es war, als führte eine Million Engel ihre Marionetten ins Feld. Ich erstarrte in Faszination und Respekt! Darauf wurde ich herumgewirbelt.
In mein Gesichtsfeld kam der Krakatau. Als wäre ich nicht mehr ganz bei Trost, glaubte ich, mitverfolgen zu können, wie eine enorme Trosse die glühende Magma aus dem Erdinnern zog. Die blieb kurzzeitig wie an einem Stöpsel – oben aufm Berg – hängen, doch der Zug war zu groß …
Dann überschlug sich die Abfolge der Ereignisse vor meinem geistigen Auge, das sich jetzt mit der Kugel vereinigte, das die Kugel war …!
Nun kreisten Pinsel, zischten Farbspritzer vorbei, entstanden melodische und weniger melodische Töne, artikulierten sich Reden und donnerten schließlich tödliche Geschosse an mir vorüber, denen ich nur ausweichen konnte, weil ich körperlos war. Und so erkannte ich das Geheimnis: Es lag in der Körperlosigkeit.
Verkörperlicht schien ich das Recht, ausweichen zu können, mit einem Faden vertauschen zu wollen. Sogleich spürte ich sein Vorhandensein auf der Kopfhaut. Jetzt war ich wieder „ich selbst“: Dieses seltsame Wesen, das lediglich als Bestandteil einer großen, von Strings gesteuerten Masse überleben konnte. Das fand ich erotisch, denn auf einmal dachte ich – natürlich – an den für mich ganz besonders interessanten Teil der „Masse“. „Damenunterwäsche“, fiel mir ein, „ist doch ein wundervolles Produkt unserer Fantasie …“
Dann gab ich meinen Stimmzettel ab.
Die Urne schluckte ihn gierig und auch irgendwie empfindsam, bildete ich mir ein – in Anbetracht dessen, wie sie da vor mir kniete, in freudiger Erwartung meiner Lebenskraft, um sie lüstern aus mir herauszusaugen. Ich genoss das geradezu ekstatisch! Und plötzlich fühlte ich mich überdies nicht länger wie in einem Walfisch gefangen, sondern vielmehr losgelassen auf die Menschheit, auf ein allgemeines Beginnen und Beenden, das ich in Wollust zu beobachten gedachte …
Leider wurde ich dann verrückt! Anders kann ich es wohl nicht bezeichnen …
Ob es die geheimnisvollen Fäden waren, die dazu beigetragen haben, oder einfach die rosa Brille, die mir ein Engel ins Gesicht zauberte, kann ich heute nicht mehr zweifelsfrei feststellen.
Alle Welt tanzte, damals jedenfalls, wie im Marionettentheater zu meiner Begeisterung! Und ich bemerkte ein weiteres Mal: Es kommt eben alles auf den Betrachter an.

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 249. Schritt

© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 249. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 249. Schritt

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 04.05.2022 8:55 Uhr

Kommentar: Lieber Alf,
Text mit wahnsinnig viel Information. Schön, wie du dich in das Bild integriert hast.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 249. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 04.05.2022 12:31 Uhr

Kommentar: Vielen Dank lieber Wolfgang!

Liebe Grüße
Alf

Ps.: Das auf dem Bild bin ich nicht...

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 249. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 04.05.2022 12:39 Uhr

Kommentar: Da hast du wohl Recht, lieber Alf,

jeder sieht es anders. Auf jeden Fall interessant geschrieben!!!

Herzliche Grüße aus dem beobachtenden Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 249. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 04.05.2022 17:56 Uhr

Kommentar: Danke dir liebe Sonja!

Herzliche Grüße aus dem verrückten Süden

Alf

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