Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 244. Schritt

© Alf Glocker

Mit fortschreitendem Wahnsinn werde ich noch die Freundlichkeit selbst. Ab sofort lasse ich alles außer Acht, was ich je erlebt habe und erinnere mich nur an meine frühe Kindheit. Das war die Zeit, als die Erwach-senen so furchtbar klug waren. Und plötzlich möchte ich wieder ganz von vorne anfangen …

Ich werde mich meinen frühesten Überzeugungen widmen! Dann werde ich Pläne schmieden! Was wollte ich damals doch gleich? Ach ja, intelligent, reich und tüchtig werden, das wollte ich! Und wie ich das anzustellen gedachte, wusste ich damals auch – leider im Gegensatz zu heute. Aber das Heute spielt für mich jetzt gar keine Rolle.

Ich freue mich bloß auf die Schule! Dort steht ein Nürnberger Trichter, und dort sind ebenso freundliche Leute wie ich, die mir alles, was ich wissen möchte, eintrichtern können. Nach und nach verstehe ich in der Folge die menschliche Psyche, die Relativitätstheorie, politische Notwendigkeiten, warum es einen Gott gibt, und wo der sich aufhält. Das ist einfach so!

Zweifel an meiner Überzeugung habe ich nicht, denn die Erwachsenen haben bereits alles geregelt. Sie befinden sich viel länger auf der Welt als ich und sie hatten auch schon Erwachsene vor sich – was praktisch eine lange Kette von Wissenden bis in die Steinzeit darstellt: lauter kompetente Leute, denen man, ohne mit der Wimper zu zucken, vertrauen kann.

Ich zucke ein bisschen, aber nicht mit der Wimper, sondern mit dem ganzen Körper, denn irgendwas kommt mir komisch an der Sache vor. Ein seliger Schwindel befällt mich. War das denn geschwindelt, was ich mir gerade zusammengereimt habe?

Neineieneineinein, bitte nicht! Ich möchte doch intelligent werden, ohne zu leiden. Ich möchte einen „ganz normalen“ Lebensweg gehen, vom Lernen über Ausbilden, Verlieben, Kinder bekommen und alle anstehenden Festivitäten Abfeiern, die so ein Menschenleben zu bieten hat. Und alles, weil ich immer so nett gewesen bin.

Habe ich nicht alles gemocht, was mir begegnete? Meine Hinwendung zu Dingen und Menschen lag stets innerhalb der Grenzen der vorgeschriebenen Toleranz! Mehr noch, ich achtete auf meinem Weg in die Mitte der Gemeinschaft obendrein immer darauf, mich keiner Richtung anzuschließen, die nur, sagen wir mal, 12 Jahre durchhält. Aber sowas tut ja auch keiner. Oder täusche ich mich jetzt?

Wieder befällt mich der Schwindel ein wenig. Na, wenigstens habe ich allein deshalb Kinder bekommen, weil ich grundsätzlich so nett bin, daß es fast schon ein wenig an Selbstaufgabe grenzt. Das möchte ich einmal einfach so vor mich hin behaupten. Warum hätte ich sonst welche erzeugt?!

Daß es nur der Trieb war, kann wohl nicht sein. Wo bliebe denn da die Menschenwürde?! Den „Instinkt“ lasse ich ja noch ein bisschen gelten, der gehört wahrscheinlich dazu. Deshalb kann man aber doch reinen Herzens sein – oder vielleicht nicht? Und ich habe dafür gesorgt, daß unsere Kinder einmal von uns Erwachsenen das übernehmen, was wir geschaffen haben, wo wir doch alle so wissend sind.

Wieder überkommt mich ein Schwindelanfall! Selbstverständlich können wir, die wir etwas geschaffen haben, auch darüber bestimmen, was mit dem geschieht, das wir geschaffen haben. Das ist schließlich logisch! Wozu sollten wir sonst unserem Instinkt, Pardon, unserer aufopferungsvollen Liebe frönen?!

Daß es meistens anders kommt, als alle gedacht haben, weil ein paar wenige von allen eben ganz anders und nicht so aufopferungsvoll liebenswert und freundlich gedacht haben wie wir, das dürfen wir getrost außer Acht lassen. Das wird nicht passieren – wir waren doch beim Wählen und haben mitentschieden, was mit uns und unseren Kindern passiert …

Ein weiterer Schwindel streckt mich zu Boden. Er beherrscht mich wie ein epileptischer Anfall und ich erwache, schweißgebadet, aus meinen kindlichen Fantasien. Inzwischen sind alle Erwachsenen um mich herum zu Kindern geworden und ich, das Kind, zum Erwachsenen.

Nach reiflicher Überlegung komme ich zu dem Schluss, daß ich sowas wie eben nicht nochmal erleben möchte, und genau deshalb halte ich mich nicht nur von meinen eigenen infantilen Träumen fern, sondern auch von denen, die sich wissend glauben, weil sie einen sie befriedigenden Entwicklungsprozess durchgemacht haben!


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 244. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 244. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 23.04.2022 15:29 Uhr

Kommentar: Lieber Alf,
du schaffst es immer wieder deine Leser mit deinem
Ideenreichtum zu überraschen, gekonnt in Wort und Form zubringen.
Deine Kinderfantasien sind wieder interessant verpackt.
(Auch wenn manch einer zweimal lesen muss!)

Herzliche Grüße aus dem sonnenverbrannten Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 244. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 23.04.2022 18:02 Uhr

Kommentar: Ich bedanke mich herzlich,
direkt aus dem wechselhafte Süden

Liegrü
Alf

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