Woran liegt es? Woran liegt was? Woran liegt es, daß ich mir so gern Gedanken mache, wenn doch alles so unabwendbar ist? Liegt das daran, daß ich mich, in der gesamten Zeit, die ich hier verbringen kann, als etwas Einzigartiges verstehe, als einen Menschen, der ein nicht verbrieftes Recht auf freie Entfaltung hat? Pardon, es ist zwar „verbrieft“, aber halt nur, wenn es den anderen grade mal in den Kram passt. Mir geht eben so manches durch den Kopf …

Manchmal, zum Beispiel, wenn es draußen regnet, bekomme ich meine ganz bestimmten „Zustände“. Dann wünsche ich mir, es möge an der Wohnungstüre klingeln. Ich stelle mir vor, dort vor der Türe stünde ein Überraschungsgast. Dieser Gast, der zwar mich kennt, den ich aber nicht kenne, hat die Kraft, mein Leben zu erneuern. Es könnte der Einfachheit halber eine ungeheuer attraktive Frau sein, die nur meinetwegen zu mir käme, aus reiner Freude sozusagen. Sie könnte hereinkommen, sich ohne vorherige Forderungen ihrerseits ausziehen und mir (sich natürlich auch) ein paar vergnügliche Stunden schenken. Dadurch könnte ich wieder an die Schönheit der Welt glauben. Aber ich weiß, daß die Welt nicht nur ganz einfach schön, sondern hauptsächlich schwierig ist – daß alles seinen Preis hat. Deshalb verwerfe ich diesen verführerischen Wunschtraum wieder.

Nun entsteht, Kraft meiner Fantasie, ein neuer, bislang unbekannter Freund oder Gönner schemenhaft vor der Türe. Er hat sich vorgenommen, mit mir alle Probleme zu meistern. Er ist trotz seiner Jugend bereits ungeheuer erfahren – was seine angeborene Intelligenz ideal ergänzt. Er ist mir intellektuell sowie körperlich himmelweit überlegen, lässt es mich aber nicht spüren. Großherzig nimmt er mich mit auf seinem Weg der lösbaren Probleme. Er weiß immer Rat. Wo eine Schwierigkeit auftaucht, bei der ich keine Lösung mehr finde, stellt er sich vor mich. Mit einer List, mit seinem unerschütterlich selbstbewussten Auftreten, mit seiner maschinenartig zuverlässigen Genialität erobert er für uns (für mich) Güter und Herzen. Bald können wir sogar alle Anfechtungen der Realität von uns fernhalten. Keine Macht der Erde ist stark genug, uns (ihn) zu besiegen.

Aber in diesem Augenblick fällt es mir wieder ein: Ich spinne! Einen solchen Menschen gibt es gar nicht und wenn es jetzt klingeln würde, stünde lediglich ein jämmerlicher Abklatsch meiner eigenen Person vor der Türe – meine Unfähigkeit nämlich, ohne Geld mit den Anfechtungen der Realität fertigzuwerden. Vielleicht stünde ich als Häufchen Elend gleich zweimal da. Die Unfähigkeit, Geld zu verdienen, welches ich für die Abwendung von Anfechtungen der Realität bräuchte, hätte sich wahrscheinlich dann noch mitpersonifiziert.

Das Ganze könnte ich mir aber auch anders vorstellen. Einfacher, wenngleich nicht weniger treffend: Niemand stünde vor der Türe, wenn es jetzt klingelte, nur mein leerer Geldbeutel läge auf dem Fußabstreifer. Er läge da, als Mahnmal zu meiner Ernüchterung. Fantasie hin, Fantasie her – es steht tatsächlich jemand vor der Türe. Die Angst steht davor! Die Angst vor der Nichterfüllung meiner Träume, in denen ich mich stets als Gewinner eines erlebenswerten Lebens sehe. Daneben steht die Angst vor dem Altern, die als Ausgeburt ihrer selbst, als Kind sozusagen, die Angst, als Trottel, der nichts erlebt hat, sterben zu müssen, an der Hand hält. Eine Familie der Ängste also, die herein möchte.

Aber ich bin nicht da. Ich bin geflohen, dorthin wo die Palmen des Entzückens unter einem Himmel herrlichen Friedens wachsen, auf einen fremden Stern, auf dem alles gut geht. Eine gerechte Welt hüllt mich ein. Eine Welt ohne Naturgesetze. Ich spüre es: Niemand darf mich fragen, ob ich schon dafür bezahlt hätte, geboren worden zu sein. Materielle Mittel spielen einfach keine Rolle, oder sie werden allein für aufrichtige Gefühle und für Fantasie entrichtet. Davon habe ich ja genug. Mir kann nichts passieren – ich befinde mich wohl!

Da klingelt es wirklich an der Türe. Zuerst höre ich es gar nicht, doch schließlich raffe ich mich auf. Ich gehe hin. Ich spähe durch den Spion. Es ist nichts zu sehen. „Aha, ein Scherz“, denke ich. Einer meiner Bekannten hat meine entschlusslose Verlassenheit gerochen und ist gekommen, weil er sich ein Späßchen mit mir machen will. Gleich tritt er ein, gleich fragt er mich, ob was ansteht. Gleich gehen wir gemütlich ein Bierchen trinken: gleich habe ich meine Probleme vergessen! Obwohl ich niemanden vor der Türe entdecken kann, klingelt es noch einmal. Mein Mund grinst so breit, daß es mir beinahe schon weh tut, als ich die Klinke runterdrücke und einen Schritt in den Hausflur mache. Leider schrumpft mein Grinsen schlagartig zu einem spitzen „Oh“ zusammen. Wer mich da besuchen will, ist leider niemand anderes als mein schlechtes Gewissen. Mit unzähligen Gesichtern flimmert es gespenstisch im Halbdunkel des summenden Schlauches herum, der übersät ist von anderen Wohnungstüren. Die Situation ist mir peinlich! Wenn die Nachbarn mein schlechtes Gewissen sehen, werden sie es sofort ausschlachten. Ich kann es nur schnell hereinbitten. Während ich das tue, bemerke ich, wie ich ein weiteres graues Haar bekomme.

Zum Glück wird es endlich dunkel. Vielleicht beruhigt mich das ein wenig. Mein schlechtes Gewissen hat inzwischen neben meinem leeren Geldbeutel Platz genommen. Auf dem Wohnzimmertisch liegen ein paar vergeudete Jahre herum. Ich schäme mich wegen der Unordnung. In einen solchen Sauhaufen kann ich doch keinen hereinlassen. „Hoffentlich fallen jetzt nicht noch meine tausend Fehler aus dem Schrank“, fürchte ich mich. „Wenn ich die zusätzlich noch zu Gesicht kriege, ist es aus mit mir.“
Nach mehreren Schweißausbrüchen habe ich mich glücklicherweise etwas gefangen. Es zieht mich magischmagnetisch in die Küche, wo ich eine weitere Kerze versteckt habe. Die nehme ich mit ins Wohnzimmer. Zwischen den vergeudeten Jahren, im Gesichtsfeld meines schlechten Gewissens, baue ich sie auf. Mit dem leeren Geldbeutel male ich daraufhin beschwörende Zeichen in die Luft und entzünde mit einem Streichholz aus einer mattgrünen Schachtel verhaltene Hoffnung) den Docht.

Wenn nun die Nacht anbricht, sitze ich wenigstens nicht allein in einem heillosen Durcheinander aus unbewältigten Szenarien. Ein wahrer Freund ist bei mir, mein schlechtes Gewissen. Er wird mir die Kraft geben, die ich für den morgigen, übermorgigen und für sämtliche weiteren Tage benötige. Die Kraft, die Berge versetzt und Menschen in Bewegung bringt. Es wird mir Stunde für Stunde die süße Lüge, die jeder halbwegs praktisch veranlagte Mensch zum Überleben braucht, ins Ohr flüstern. Die süße Lüge, die da lautet: Es liegt nur an dir, mein Freund, wenn du im Leben nichts erreichst – einzig und allein nur an dir!

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 225. Schritt

© Alf Glocker


© Alf Glocker


1 Lesern gefällt dieser Text.


Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 225. Schritt"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 225. Schritt"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.