Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 134 Schritt

© Alf Glocker

Schluss des vorausgegangenen (133ten) Schrittes: Wir aber, um noch einmal auf die Zusammenbrüche der unter immer höherem Leistungsdruck Stehenden zurückzu-kommen, bräuchten dann nicht diese 1.000 und eine Religion, mit deren Hilfe wir uns aus dem Sumpf ziehen wollen …

134. Schritt

Eine davon ist das Coaching! Weitere heißen „Betriebsberatung“, Workshops, Psychotherapie, Paar- oder Eheberatung, Sport, sexuelle Umorientierung, Parteipolitik, Ernährungs-Grenzwissenschaft, Gentechnologie usw., doch kommen wir erst einmal auf das Coaching zurück …
Wer mit beiden Beinen mitten im Leben steht, oder wie der völlig verblödete Slogan heißt (in dem sich jede nur erdenkli¬che Form von Missbrauch zusammenfassen lässt), und wem daraus eine Gefahr droht, der braucht einen Coach!
Ein Coach ist eine Person, die, egal wie es ihr selbst geht, Parolen verbreiten muss, die auf Biegen und Brechen Lebenserfolge herbeireden, ohne je ein Problem wirklich beseitigt zu haben. Das ist, man höre und staune, ganz einfach!
Zuerst aber muss durch „Rationalisierung“ und sogenannte „Workshops“ die Atmosphäre völlig vergiftet sein, die Familien zerrüttet, die Hirne gewaschen und die Persönlichkeiten von Grund auf zerstört. Dies ist dann ein Grund, regelnd einzugreifen! Bevor jedoch der Staat irrtümlich in die Pflicht gerät, Zustände zu begünstigen, die den Menschen nutzen und die Würde bewahren, müssen sich einzelne Individuen in die Schlacht am eiskalten Buffet werfen.
Was auf den Tisch kommt, wird zwar gefressen, vorher jedoch umgewürzt oder umetikettiert. Mit sich herumgetragene Ängste verlieren an Bedeutung, Sorgen an Gewicht, Komplexe ihre Wirkung, Zwangsvorstellungen werden ausgeräumt, Schuldgefühle beseitigt. Niedergeschlagenheit tritt somit nicht mehr auf! Harharr!
Wie man sowas macht? Es ist nicht zu fassen, aber man verdrängt es einfach! Das, was früher nur die ganz gemeinen Schweine perfekt beherrschten, soll jetzt jedem beigebracht werden. Klar, was sonst?!
Wie sollte ein „ganz normaler Zeitgenosse“ auch anders überleben? Die Methoden dabei sind zwar reichlich borniert, aber wissenschaftlich anerkannt, weil alternativlos. Ein Beispiel …
Wir machen zunächst einmal eine abstrakte Übung: Wir denken uns ein Wort. Ich würde sagen – wenn ich den Mut dazu hätte – wir denken uns das Wort „Niederlage“. Da es diesen Begriff neuerdings aber gar nicht mehr gibt, schreiben wir das Wort siebenmal untereinander und prägen uns die Buchstaben genau ein – aber bloß, um sie der Reihe nach zu vergessen!
Jetzt haben wir freie Hand! Wir vergessen die Buchstaben N, I, E, D, E und R. Ganz Mutige können nun die verbleibenden Zeichen, die zusammen eine „Lage“ bilden, einfach stehen lassen. Der wahre Profi allerdings vergisst alles komplett. Somit hat er überhaupt nichts erlebt und kann irgendwas neu angehen. Ein wirklich virtuoser Könner aber erkennt einen Tatbestand, der auf eine Niederlage auch nur hindeuten könnte, in vorauseilendem Gehorsam seinem neuen Glauben gegenüber sofort – und handelt dementsprechend ignorant: Er akzeptiert ihn ganz einfach nicht! Denn er hat immer recht!
Mit dieser Methode entsteht Raum für nachgerade künst¬lerisch anmutende Denkfigurationen, die nichts mehr entschuldigen müssen, weil die Schuld nun an sich ein völlig abstrakter Begriff geworden ist. Aus „Ich habe betrogen“ wird entweder gar nichts, oder „Ich habe“. Aus der Angst heraus, polizeilich verfolgt zu werden, wird die Überzeugung, unschuldig zu sein usw. Mit der Zeit finden sich viele Glaubensgenossen, die ebenso zu denken gelernt haben wie wir.
Gegeben hat es das in allen Epochen, es wurde nur noch nie so stark propagiert. Früher waren das eher Staatsgeheimnisse, um unmenschliche Gesetze erlassen wie auch durchführen zu können. Oder es waren religiöse Dogmen, mit deren Hilfe man das einfache Volk in jede gewünschte Richtung dirigieren konnte. Der Besitz eines eigenen Gewissens ist schließlich nicht jedem vergönnt.
Deshalb haben es die Religionen heutzutage ja auch so schwer. Sie müssen praktisch noch dümmer sein, um angenommen zu werden – das gelingt eben nicht allen. Erst wenn es dem Staat an sich gelungen ist, sich auf ein bemitleidenswertes Niveau herunterzuarbeiten, könnte er eventuell wieder durch eine sagenhaft archaische Religion gerettet werden. Aber dafür brauchen wir dann wieder die geeigneten Menschen. Wie kriegen wir die bloß, wenn nicht durch Coaching? Wartet ein total neuer Wahnsinn auf uns?


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 134 Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 134 Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 23.11.2021 10:08 Uhr

Kommentar: Der Wahnsinn lauert, wie es aussieht hinter jeder Ecke, ob es der alte oder ein neuer Wahnsinn ist wird man sehen. Man muss sich nur raustrauen, dann wird man ihm mit Sicherheit begegnen.

Herzliche Morgengrüße aus dem fast wahnsinnigen Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 134 Schritt

Autor:   Datum: 23.11.2021 12:29 Uhr

Kommentar: Der gute alte Beichtvater wird durch Coaching und Therapie ersetzt, und man zahlt Unsummen. Die alte Freisprechung von Sünden war zumindest gratis.

Gut beschrieben, lieber Alf!

Lg Herbert

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 134 Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 23.11.2021 14:01 Uhr

Kommentar: Vielen Dank liebe Freunde!

LG Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 134 Schritt

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 23.11.2021 17:37 Uhr

Kommentar: Lieber Alf,
gut, dass du noch viele Schritte im Ärmel hast. Da lohnt sich immer wieder der Besuch im Schreiber Netzwerk.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 134 Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 23.11.2021 18:03 Uhr

Kommentar: Vielen Dank lieber Wolfgang!

Liebe Grüße
Alf

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