Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten   90. Schritt

© Alf Glocker

„Ich sehe, ich sehe, ich sehe eine Lawine auf uns zukommen“, so könnte eine kassandrische Meldung lauten, die mein Unterbewusstsein in mich hineinbrüllt. Dann ist Folgendes zu tun …? Keine Ahnung!
Was ist passiert? Noch nichts? Wird etwas passieren? Egal, ob nun wirklich etwas Angenehmes oder etwas Unangenehmes geschieht – es ist alles zweitrangig!
Erstrangig ist es, lediglich zu sagen: „Das macht doch nichts.“ DASMACHTDOCHNICHTS ist höherwertig, nachschlagbar, gleichbleibend belanglos, und es hat eine enorme Informationsdichte!
Mit diesem Begriff, mit dem DASMACHTDOCHNICHTS, haben sich Fachleute aus aller Welt befasst. Es ist scheinbar lebenserhaltend, vor allem aber vielseitig verwendbar!
Das Allerwichtigste aber daran ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, daß keiner eine wirkliche Lösung anzubieten braucht. Alle sind aus dem Schneider. Das ist doch schön …
Obwohl die Einsicht im Unterbewusstsein existiert, es gebe außer dieser lösungsfreien Direktmethode, diesem DASMACHTDOCHNICHTS, noch andere Anwendungsmöglichkeiten von echter Hilfe, ist diese absolut dominant. Andere vertretbare Praktiken werden diszipliniert übersehen – weil sonst ein Prinzip grundsätzlich ins Wanken geriete: daß es wirkliche Lösungen gar nicht gibt! Zumindest nicht, solange man keine sucht.
Dafür gibt es, sozusagen „ersatzweise“, gewisse Instinkte, die gepflegt, Ängste, die totgeredet, und diverse Unfähigkeiten, die überspielt werden wollen. Alles zusammen heißt dann im Sprachgebrauch „Fachkompetenz“.
Und in ihrem heilen Licht betrachtet, sieht alles schon wieder ganz anders aus. Da werden gemachte Fehler zu Helfern, Krankheiten zu Prüfungen und Naturkatastrophen zu gar nichts – zu schlicht etwas, das man eben nicht verhindern konnte. Dafür ist die Bezeichnung „höhere Gewalt“ vorgesehen. Mit ihrem Vorhandensein muss man einfach „fertig“ werden.
Überaus schwer zu erklärende Hintergründe bleiben richtigerweise unbeleuchtet, Wahrheiten werden in Kategorien eingeteilt, nötigenfalls umbenannt, Probleme zu Geschenken stilisiert et cetera, et cetera. Alles zu unserem Wohl! Das erfordert einen hohen Grad an Geschicklichkeit, vor allem aber einen nachschlagbaren Maßnahmenkatalog, der einer Gegenwart entspricht, die uns ge-staltet. Nicht einer, die wir gestalten.
Wir gestalten die Augenblicke nicht, wir interpretieren sie! Das macht uns zu Diplomaten in eigener Sache, zu Teilnehmern an einer dubiosen Gesamtentwicklung – oder zu Dienern von … was? Diese Antwort sofort zu geben, empfiehlt sich auf keinen Fall, da keiner niemanden an die Wand malen möchte, um nicht vor etwas erschrecken zu müssen, das es nicht gibt.
Allein der vorige Satz lässt bereits zweifelsfrei erkennen, wie sehr alles auf reinen Interpretationen basiert, wie sehr alles eine reine Interpretationsfrage ist. Das macht Mut! Wir müssen uns auf diese Weise erst gar nicht mit der verborgenen (okkulten) Wurzel eines Übels befassen, da es entweder gar kein Übel gibt, oder wir das Übel einfach von einer anderen Seite betrachten müssen, um zu erkennen, daß es gar keines ist, oder wenn, dann lediglich ein zu bewältigendes. (Wir schaffen das)
Hin und wieder sich ereignende Scheußlichkeiten sind auf diese Weise fast gänzlich einem menschlichen Kalkül unterworfen, das nur nach Worten suchen muss, um Lösungen immer dann zu vermeiden, wenn z.B. die Lösungen weh täten oder gegen ein laut propagiertes Verhaltensschema verstießen. Und so kommt nicht nur eine Misere, ein Unglück, sondern auch postwendend der Trost. Die wahrnehmbare Welt gerät in Drehbewegungen um einen Kern aus glühendem Magma. Oder anders ausgedrückt: Die Laberbrigaden schwärmen aus! Ihrem Krisenmanagement ist kein Unkraut gewachsen, denn ihre Wortwerkzeuge sind klar definiert, überall erhältlich und somit auch leicht zu handhaben.
Eines davon heißt: „Ja, es gibt das Leid!“ In dieser Feststellung steckt so viel Weisheit, daß einem schlecht werden könnte. Wer wollte da widersprechen?! Schließlich will keiner einen beleidigen, der sich darauf festgelegt hat, Unumstößliches zu verkünden. Das klingt ungefähr wie: „Wer will hier eine Mauer bauen?“ Oder auch nach: „Die Mauer muss weg!“
Solch fundamentale Argumentationen spiegeln nicht bloß die äußerst geschickt verschwiegene Hilflosigkeit oder die Verschleierung eines unausweichlich-idiotischen Entschlusses, sondern führen uns auch eindrucksvoll vor Augen, wie frei die Gedanken wirklich sind. Dagegen kann man einfach nicht aufstehen. Das wäre irgendwie „unan-ständig“! Viel
eher neigt man doch schon beinahe dazu, den Verkünder einfachster Fakten mit dem gebührenden Mitleid zu versorgen. Damit hätte man jemandem einen Gefallen getan, wodurch die eigene Last dann bereits teilweise leichter empfunden worden wäre.
Dies ist eine „medizinische Anwendung“ nach dem bewährten Vergleichsprinzip: „Mir geht es zwar reichlich schlecht, aber dieser arme Zeitgenosse hat überhaupt keine Ahnung davon, warum es mit mir so weit gekommen ist – da bin ich doch noch relativ gut dran.“
Ob es das, was es gibt, nun im Großen und Ganzen geben dürfte oder nicht geben dürfte, wenn es mit „rechten“ oder „unrechten“ Dingen zugeht, das verfliegt im Ansatz aufkommender, fast schon schwarzhumoriger Betrachtungsweisen, die Gegebenes als „gegeben“ und Nichtgegebenes als vorenthalten apostrophieren.
Das an dieser Stelle aufgestellte Stoppschild „NICHTWEITERNACHGRÜBELN“ wird deutlich und bringt entgangenes Lebensglück schrittweise zurück. Wen das nicht beruhigt, der ist selber schuld, oder auch therapieresistent.
Wie man‘s nimmt.
Überall, wo wir auch hinschauen, begegnen wir heutzutage diesen Laberbrigaden. Ihre Ausbildung hat ganze Weltanschauungszweige ins Leben gerufen. Sie sind auf den verschiedensten Gebieten tätig und sie werden überall gebraucht.
Die von der Industrie beauftragten Fachlaberer sind vonStaats wegen beauftragt zu erklären, warum es gut ist, daß billige Arbeitskräfte gebraucht werden. In Gerichten und Parlamenten finden regelrechte Laber-Olympiaden statt, wo die Recken der Neuzeit aufgerufen sind, möglichst geschickt herbeizulabern, wegzudiskutieren, warum etwas berechtigt sein sollte oder warum auch nicht?! Das sind die beispielgebenden Vorkämpfer für alle anderen Sparten.
Wer am besten interpretieren kann, bekommt den Vertuschungsorden erster Klasse mit Palmenlaub und Pflugscharen. Er ist der oberste Typ, respektive die raffinierteste Tussi der Gesellschaft, was ungefähr mit „tonangebend“ gleichzusetzen ist. Sich daran zu orientieren empfiehlt sich dringendst! Woher sollte ich schon selber wissen, was mir fehlt, wie es mir geht? Sobald die wirklichen Anlässe dafür erfolgreich zerredet sind, geht es aufwärts – egal in welcher Richtung das liegt.
Sollte mir also etwas Gravierendes passiert sein, dann qualifiziert mich das noch lange nicht dafür, meine Situation beurteilen zu können. Logisch! (?) Nein? Ja? Ist das nicht beinahe schon metaphysisch? Mir kommt es jedenfalls so vor. In diesem Fall wäre dann alles klar. Denn im metaphysischen Bereich Schuldfragen zu lösen ist nicht Aufgabe der Seelsorge! Andererseits tritt hier auch die, vielleicht nicht ganz unberechtigte, Frage auf: „Für wie blöd halten wir uns eigentlich?“


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten 90. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten 90. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 14.10.2021 11:54 Uhr

Kommentar: Der letzte Satz ist wohl die wichtigste Frage!?!?

Herzl. Grüße aus dem fragwürdigen Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten 90. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 14.10.2021 12:16 Uhr

Kommentar: Das kann man wohl sagen!

Herzliche Grüße aus dem ebenfalls fragwürdigen Süden
Alf

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