Prolog

Es ist kein Irrtum. Vielmehr ist es eine vorübergehende Wahnvorstellung, die sich vor die Realität schiebt wie ein klebriger, nasser Schleier, der sich früher oder später auch für eine Weile in die Augen legt und dann kondensiert und ins Tal rinnt. Wie eine erneut aufgeschabte, aufgerissene Narbe, die Zeichen ist für erzwungene Antivanitas und kläglichen Widerstand.
Ein Land rebelliert. Ein Land in einem Kopf. Ein Land in meinem Kopf.
An einem Kopf der Lauf eines harten, kalten Colts. Das Land steht drauf. Das Land will mehr.
Blut spritzt, spritzt aus Armen und aus Köpfen. Dem Mörder mitten ins Gesicht.
Er lächelt. Ich lächele. Das Land lächelt. Alle lächeln. Denn so ein Lächeln tut niemandem weh.

Der Regen spült das Schneeblut aus den Gassen, aus den Feldern, in die Stadt und aus ihr hinaus.
Er verfängt sich in meinen Wimpern, meinem Genick und in meinem Gedächtnis.
Wie die Melodie einer verdammten Oper mit quietschenden Geigen und kratzigen Celli.
Meine Stiefel knarzen im Takt dazu und beschützen meine Füße nicht vor der Flut.
Ich möchte nicht nach Hause. Nie mehr. Vielleicht morgen.
Die Bahn hat Verspätung. Ich steige ein. Vage Visagen überall. Immerhin.
Am Fenster sind überall freie Plätze. Ich schaue nach draußen, suche nach einem Fixpunkt.
Da sind Kameras an den Decken. Ich fühle mich genötigt, einen imaginären
Säbel auszupacken und die Dame mit dem Dackel auf dem Schoß nach jenem zu erstechen.
Doch ich lasse es bleiben, denn er ist nicht poliert.
Ein Betrunkener klammert sich an seine Whiskeyflasche wie an einen alten Bekannten, der ihm die Frau ausgespannt hat, und dem er gleich ordentlich in die Fresse schlagen wird.
Stattdessen sinkt er zu Boden und schnarcht. Ich drehe mich weg und atme.
Zu meiner Rechten nichts als Wüste. Mir gegenüber nichts als Wüste. Ich die Wüste.
Wüst. Kahl. Leer. Trocken. Farblos. Ein Klischee. Ein Wüstenklischee.
Ich habe keine Lust. Ich habe keine Ideen. Ich schließe die Augen.
Ein alter Mann hustet und ich stelle mir vor, er stirbt. Aber er lebt weiter. Immer weiter.
Ich kann sein Herz hören fühlen sehen hören fassen. Es ist faltig und blass und müde.
Mit einer rostigen, dicken Nadel möchte ich es zerstechen und mir mit dem alten, zähen Blut Streifen auf die Wangen malen als Zeichen für den sich in mir aufbauschenden, erlösenden Krieg.
Die Bahn hält. Ich steige aus. Der Mann röchelt. Der andere schläft. Die Frau auch. Der Dackel kläfft.
Es ist kalt. Ich ziehe die Schultern hoch und gehe nach Hause.
Morgen werde ich eine weiße Taube töten.

EINS

Ich sitze im ehemaligen Schlafzimmer meiner Eltern an einem mit Kerben übersäten Schreibtisch, lausche der Third-Platte von Portishead und versuche mich an einem Human-Reset-Project.
Es geht um die Idee, sich eine kleine Armee zusammenzusuchen aus einfachen Menschen, die keine Aufgabe zu haben scheinen, die man emotional so weit wie möglich neutralisiert und dann zu spezialisierten Zweitpersönlichkeiten ausbildet. Sie müssen spitzeln können, Waffen bedienen, Pläne entwerfen und diesen ganzen CIA-Mist.
Wozu, das habe ich mir noch nicht überlegt.

Alles hat zwei Seiten. Alles ist gut und böse.
Du. Ich.
Alles hebt sich auf.
Vielleicht ist der Wert aller Dinge gleich Null.
Würde das alles einfacher machen, alles ändern?
Wir wollen die Dinge, das Leben greifbarer machen.
Gut sollen sie sein oder schlecht – dazwischen ist anstrengend.
Denn wenn wir einmal die Kraft gefunden haben zu greifen, dann wollen wir es begreifen.
Ich glaube, das Wort wird falsch benutzt; man tastet eine Sache ab, wenn man sie begreift, aber deswegen versteht man sie ja noch nicht sofort.
Die nächste Stufe ist das Ergreifen; ein wechselwirkender Vorgang: man ergreift und wird ergriffen von einer bestimmten Wertvorstellung.
Wir sollen beispielsweise einen Schulabschluss haben.
Erreichen wir diesen nicht, sind wir anormal oder sogar schlecht.
Ich könnte damit leben, nicht normal zu sein. Aber schlecht?
Der Mensch hat Freiheit verlangt, erlangt und sich dann hinter den Mauern seines Denkens verbarrikadiert. Er scheint sich nach Begrenzungen zu sehnen, gegen die er sich auflehnen kann.
Zufriedenheit erbost ihn zutiefst.
Ist es unser Schicksal, immer gegen uns selbst zu kämpfen?
Ist das Unglück unser Glück, der Wahnsinn unser Sinn?
Sind wir erst bereit zu geben, wenn uns genommen wurde?
Das lässt den Menschen doch unheimlich jähzornig wirken, oder?
Jähzornig und verzweifelnd suchend nach einer Aufgabe.
Hierbei muss man unterscheiden zwischen gesellschaftlicher und eigensinniger Pflicht: was soll ich tun – was möchte ich tun?
Anerkennung ist nur ein Stichwort.
Wie will man sich selbst wertschätzen können, wenn man nicht die Aufgabe schätzen kann, die einem auferlegt wurde?
Daran scheine ich zu scheitern.
Ich bin mir fremd. Ich betrachte mich von einem inneren Äußern.
Um handeln und funktionieren zu können, muss ich in mir sein.
„Geh doch einmal aus dir heraus!“
Ich bin hinausgegangen aus mir. Doch erfasste eine staubige Böe das Hintertürchen, durch das ich geschlüpft war, und ließ sie quälend sichtbar und langsam ins Schloss fallen.
Der Schlüssel war drinnen, ist es noch. In meinem Kopf.
Welch Dilemma, wenn die Lösung des Problems im Problem selbst liegt, mit dem man nicht (mehr) zurechtkommt.
Diese ganze jugendliche Selbstfindungsmisere stellt den zarten Menschen ins Dunkel und seine Existenz gänzlich in Frage.
Und dann geht’s los: „Du hast doch noch gar keine Ahnung vom Leben!“, „Werde erst mal erwachsen!“ und „Dazu bist du doch noch viel zu jung!“
Jugend ist kein Geschenk mehr, kein goldener Lebensabschnitt.
Es ist ein Kampf, ein erbitterter Kampf gegen die Jugend selbst.
Das Ziel ist es, den Jugendlichen auszuschalten. Sich selbst auszuschalten.
Um sich zu beweisen. Vor den Lachern, den Kritikern. Vor sich selbst.
Man gewinnt, indem man sich verliert.
Das Erwachsenwerden ist das Absterben einer strebenden Persönlichkeit und die Geburt einer sich nicht abhebenden, aber überheblichen; einer sich nicht selbstredend bevormunden lassenden, abwegig geradlinigen Art des quellenarmen Seins.
„Du bist doch schon mitten im Leben!“
Nein. Mitten im Sterben.
Alles hat zwei Seiten. Der Wert ist gleich Null.
Gleichgültigkeit: alles gilt, alles hat Bedeutung.
Wieso ist das schlecht?
Wieso bin ich schlecht?
Ich will wachsen, nicht erwachsen werden.
Ich will alles gelten lassen, nicht manches kleinreden.
Ich will lebend sterben, nicht sterbend leben


© Merkwürdig


1 Lesern gefällt dieser Text.





Kommentare zu "Ein zwiegespaltener Konsens"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Ein zwiegespaltener Konsens"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.