„Und denkt bitte an die Hausaufgeben…“, höre ich unsere Lehrerin noch rufen, doch da sind Sebastian - mein bester Freund – und ich schon auf dem Gang und rennen dem Pausenhof entgegen. Zwar verlasse ich auch heute noch fast fluchtartig den Raum, sobald meine Ohren die erlösenden Klänge der Pausenglocke vernehmen, dennoch spielt dieses Szenario vor etwa acht Jahren – ich war damals noch ein stolzer Viertklässler – in meiner damaligen Grundschule. Wir laufen und laufen, eine gefühlte Ewigkeit dauert es bis wir endlich vor der Schultür stehen. Und solche Türen sind etwas ganz Besonderes: groß, schwer und – abhängig davon auf welcher Seite man stehet – entweder die Himmelpforte oder das Tor zur Hölle. Wir öffnen also die Tür, lassen die Unterwelt mit all ihren Tafelaufschrieben und Matheaufgaben hinter uns und betreten den Garten Eden. Ich blicke mich um, suche Sebastian, doch kann ihn nirgends finden. Stattdessen blicke ich in das Gesicht von Aphelios, einem mächtigen Jediritter. Er begrüßt mich mit einem freundschaftlichen „Hecarim, schön dich zu sehen!“. Aus Robert und Sebastian wurden Hecarim und Aphelios. Klingt doch auch irgendwie cooler, oder? Wann immer es geht, verlassen wir unsere Wirklichkeit und verbringen unsere Zeit in unseren Fantasiewelten. Dort kann passieren, was wir wollen und wir können sein, wer wir wollen. Wir spielen Geschichten von Verlust, epischen Kämpfen oder Liebe. Mal wird der eine vom Bösen ergriffen und muss gerettet werden, mal verletzt sich einer im Kampf, mal zeigen wir unser „duellantisches Können“ in kleinen Auseinandersetzungen. Der Facettenreichtum dieser Spiele bringt nicht nur Spaß, sondern unbewusst auch Persönlichkeitsentwicklung mit sich. Das Annehmen verschiedener Persönlichkeiten hilft uns festzustellen, wer wir eigentlich sind und sein wollen. Diese Form der Selbstreflexion bereitet vielen erwachsenen Menschen Schwierigkeiten. So wird oft stundenlang ergebnislos über das eigene Leben und Handeln nachgedacht und aus daraus entstandenem Frust entweder ein Yogaabo gekauft, oder eine Wanderung auf dem Jakobsweg geplant – was natürlich beides nach weiteren Überlegungen weder verwerfen wird. Auch F.J.J. Buytendijk weist darauf hin, dass der Mensch das Spielen braucht „um diese Existenz zu erleben.“. Maxim Gorki sagt Ähnliches und spricht vom Spiel als ein Mittel die Welt zu erkennen. Und spätestens hier liegt es nahe Goethes Faust zum Spiel zu raten: Denn wer im Spiel erkennt die Welt, der weiß was sie zusammenhält.

Immer mehr Stimmen werden lauter und plädieren für einen spielerischen Alltag. John Cleese nennt das Spielen eine Voraussetzung für Kreativität an Arbeitsplatz. Die Teuber Brüder – ihrerseits Spieleentwickler – sehen im Spielen einen Ausgleich zur Hektik unseres Alltags. Im neofaktischen Zeitalter des Internets sehen wir uns einer ständigen Informationsflut ausgesetzt. Wir stapfen durch ein Faktenwatt und bemühen uns in mühseliger Kleinarbeit, die wenigen angespülten Informationsschätze von dem vielen unnützen Fakenews- und Irrelevanztreibholz zu unterscheiden. Da bleibt wenig Zeit für Strandurlaub mit Frau und Kind.
Doch lassen Sie uns das Bild einmal anders herum zeichnen: Sie sind bereits im Strandurlaub und genießen die Sonne, lesen vielleicht ein Buch. Und wie das am Strand nun mal so ist, schwappt eine Informationswelle ans Ufer und bringt Muscheln mit sich. Aus der Wattwanderung wird ein Strandspaziergang. Plötzlich scheint es uns nicht mehr mühselig, jede Muschel und jeden Stein hochzuheben, obwohl die meisten davon natürlich nicht das wunderschöne Mitbringsel für Zuhause sind. Zwar findet sich hier und da ein Stück, dennoch lassen sie den Großteil liegen. Letztlich ist es die gleiche Situation, lediglich ein spielerischeres Bild.
Das Spielen kann also mehr als nur ein kindliches Mittel zum Zeitvertreib sein. Man kann es auch als eine Art Lebenseinstellung betrachten, die lehrt, die Dinge nicht zu ernst zu nehmen und eine Entschleunigung des Alltags anstrebt. Vergleichen sie einmal die Gefühle, die sie haben, wenn sie mit 200 km/h über die Autobahn fegen und die, welche eine Spazierfahrt in einem Oldtimer durch Südfrankreich in ihnen auslöst. Gut, mancher AC/DC Fan fühlt sich eher zum „Highway to Hell“ hingezogen, doch für die meisten spiegelt Willie Nelsons „On the road again“ ein entspannteres Lebensgefühl wider.
An dieser Stelle passt es gut den Begriff des Homo Ludens, des spielenden Menschen zu erwähnen. Gerade im Kontrast zur wissenschaftlichen Bezeichnung des Homo Sapiens. „Sapiens“. Verstehend, vernünftig. Worte, die viel Verantwortung mit sich bringen. Kant führte das ganze weiter, spricht von einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Nun frage ich Sie: Glauben Sie, ein Kind versteht die Worte „Vernunft“ und „Unmündigkeit“? Geschweige denn das Konzept von Verantwortung? Und jetzt frage ich weiter: Wer ist wohl glücklicher, ein Manager mit fünfstelligem Monatseinkommen oder eine Fünfjährige, die Ihren Playmobilbauernhof managed? Wären sie nun lieber ein Homo sapiens oder homo Ludens? Könnte ich Latein, stünde hier „ein vernünftiger Spieler“ in Lateinisch. Kann ich aber nicht. Wäre ich im Lateinunterricht mal mehr sapiens als ludens gewesen! Trotzdem denke ich, dass eine Mischung von Nöten ist, um einen Menschen glücklich zu machen. Eine Gesellschaft aus reinen Spielern würde genauso schlecht funktionieren, wie eine Gesellschaft, die nur aus Vernünftigen besteht. Den immer weiter zunehmenden Fällen von Depressionen und Burnout könnte mit etwas mehr Gelassenheit sicher entgegengewirkt werden. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte keinesfalls Depressionen mit einem „sieh’s doch mal positiv!“ behandeln, viel mehr möchte ich Kritik an unserer zu sehr leistungsorientierten Gesellschaft äußern. Immer mehr entwickeln wir uns weg vom Humanismus und vom Menschen als Individuum. Eine spielerische Einstellung kann hier helfen, von einer sehr zielorientierten Sichtweise zu einer „Der Weg ist das Ziel“-Mentalität zu gelangen. Doch auch hier muss vor dem Extrem gewarnt werden. Bestünde die Gesellschaft nur noch aus Bio-Öko-Vegan-Flowerpower Hippies, gäbe es zwar bald Biomärkte wie Sand am Meer und Batikworkshops wären der Renner auf jeder Ü30 Geburtstagsfeier, ob unsere Wirtschaft und (Außen-)Politik dann noch so gut funktionieren würden, wage ich zu bezweifeln. Dieses Szenario noch weiter zu beleuchten, sowie hier philosophische Fragen nach der Funktionsweise und dem Nutzen einer Gesellschaft zu stellen klingt zwar durchaus interessant, würde hier jedoch wohl den rahmen sprengen. Wie wäre es damit, als Essaythema für nächstes Jahr? „Gesellschaft“, im Dossier Ausschnitte aus Marx‘ kommunistischem Manifest und Hitlers „Mein Kampf“?
Doch woraus auch immer unsere Gesellschaft besteht, Spielen schafft Gemeinschaft. Bestes Beispiel hierfür ist wohl Sport. Ganz nach dem Motto „Elf Freunde müsst ihr sein“ verbindet der Sport Menschen unabhängig von ihrer politischen Gesinnung oder ethnischen Herkunft. Ob man nun Geschichten von Weltkriegssoldaten, die an Weihnachten an der Front Fußball spielen hört, oder einfach eine multikulturelle Mannschaft sieht, so zeigt sich doch, dass das Piel einen insgesamt positiven Einfluss hat. Es erfordert Kooperation und Zusammenarbeit und fördert so Toleranz und Teambildung. Hinzukommt ein kompetitiver Aspekt. Im Spiel sind wir bereit, über unsere Grenzen zu gehen, uns selbst zu überwinden. Selbst wenn es mal „Game Over“ heißt, gilt uns das oft nur als Ansporn, es beim nächsten Mal besser zu machen.
Und nun sind wir am Ende dieses Essays angekommen, am Ende eines verspielten Textes. Um Ihrem Denken keinen Abbruch zu tun halte ich mich kurz, bedanke mich für die Aufmerksamkeit, die sie meinen Gedanken gewidmet haben und schließe mit einem Zitat:
„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist,
und er ist nur da Mensch, wo er spielt.“ – Friedrich Schiller


© TellMeRob


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