Bruno de Bary

„Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen.“
(Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 1944)

In Diskussionen über die Verfasstheit der westlichen Zivilisation wird den Verfechtern von Alternativen zum Kapitalismus gern vorgeworfen, sie verkündeten Heilslehren; deren Unhaltbarkeit und Überholtheit sei ja durch den Gang der Geschichte hinreichend erwiesen. Wer solches „Heil“, also: geschichtlich ad acta Gelegtes anstrebe, begehe eine Don Quichotterie oder vermehre sogar das schon bestehende Unheil.

Ähnlich den Warnhinweisen im ehemals geteilten Berlin könnte dieser Einwand etwa lauten: „Achtung, Sie verlassen den rationalen Sektor!“ oder: „Achtung, Sie betreten gerade den metaphysischen Sektor!“

Die wahrscheinlichste Reaktion: Der Kapitalismuskritiker fühlt sich getroffen und versichert eilfertig , seine Einwände und Gegengründe seien natürlich mindestens ebenso rational begründbar wie die seiner Diskursgegner, und es handele sich hier um ein Missverständnis oder gar eine Unterstellung.

Was aber, wenn er den Ball nicht einfach zurückwärfe?
Etwa, indem er Folgendes sagte:

Heilung vom Wachstumswahn

„Ja, Heilslehren als Ausdruck innerweltlicher Erlösungserwartungen werden in der Tat den komplexen Verhältnissen nicht gerecht und bringen nach aller geschichtlichen Erfahrung Intoleranz und erneute Unterdrückung mit sich. Aber Heilungs-Lehren sind mittlerweile überlebensnotwendig, denn wir haben es bei den Gesellschaften der westlichen Zivilisation mit Mega-Organismen zu tun, deren Stoffwechsel sowohl mit ihrer System-Umwelt (‚draußen‘) wie innerhalb ihrer System-Elemente (‚innen‘) nachhaltig gestört ist; die also im Kern krank sind und deshalb dringend der Heilung bedürfen. Also brauchen wir Heilungs-Lehren und daraus abzuleitende gesellschaftliche – und individuelle - Therapien.“

Dass ein geheilter Körper keinerlei Angriffen und Gefährdungen mehr ausgesetzt sei, heißt dies keineswegs, aber doch soviel, dass er die Kraft hat, mit äußeren Belastungen fertig zu werden oder dass er über eine funktionierende Immunabwehr verfügt.

Was wäre nun als Kern anzusehen? 1. die vorherrschende Bewusstseinsstruktur, das Raster, in dem „Realität“ überhaupt wahrgenommen, ‚zugelassen‘ oder aber ausgeblendet wird, gleichsam die Organe der Selbstwahrnehmung, 2. die Triebstruktur, also das kollektive Unbewusste, aus dem die Energieströme fließen, aber auch die neurotischen Blockierungen wirksam sind – also der innergesell- schaftliche Aspekt; 3. der gestörte Stoffwechsel mit der Natur, d. h. die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen.

Im herrschenden Selbstverständigungs-Diskurs, also dem, was in den Leitmedien allgemein unter ‚Politik‘ abgehandelt wird, bleibt der Zwang zum ständigen weiteren Wachstum unhinterfragt, – und das nach immerhin mehr als einem Vierteljahrundert öffentlicher Diskussion der ökologischen Grenzen der indus- trialistischen Produktionsweise. So ist z. B. in einem 1975 erschienenen Lehrbuch zur Humanökologie die Rede davon, die Industriestaaten abzuentwicklen, „de-develop“ , was bedeutet, dass diese Zivilisation mit den Realitäten der Ökologie und den natürlichen Hilfsquellen der Erde in Einklang gebracht wird. Der Volkswirtschaftler Leopold Kohr sprach schon 1962 in einer Publikation von den „overdeveloped nations“ . Spätestens seit dem Weltgipfel von Rio 1992 und dem Nachfolgegipfel von Johannesburg 2002 ist einer breiteren Öffentlichkeit der Leitwert der „Sustain- ability“ (Durchhaltbarkeit, Nachhaltigkeit) bekannt, wenn auch nur als Schlagwort oder Beschwörungsformel – ähnlich dem noch mehr strapazierten ‚ganzheitlich‘.

Der Wachstumswahn, dessen Triebfeder tiefenpsychologisch gesehen ein Mangelwahn ist, stellt offenbar ein Residuum aus der Jungsteinzeit dar; angesichts der in den letzten Jahrzehnten erreichten Sprünge in der industriellen Produktivität ist die zur Tugend verklärte Arbeitswut, die „protestantische Arbeitsethik“ nun offen irrational, d. h. in ihren Auswirkungen auf die Systeminnen- wie -außenwelt ein- deutig zerstörerisch geworden. Dagegen ist alles Gerede über qualitatives Wachstum oder Abkoppelung des ökonomischen Wachstums vom Ressourcenverbrauch bis heute pure Rhetorik geblieben.

So gilt für die vorherrschende Bewusstseinsstruktur, massenmedial täglich neu bestärkt, unverändert Marxens Diktum von der „herrschenden Meinung als Meinung der Herrschenden“, in dieser Hinsicht „... Blindheit der Herrschenden“. Aus ihr lässt sich auch Handeln und Nicht-Handeln der beherrschten Mehrheit ableiten, deren Welt- und Menschenbild, deren Stereotype, bis hinunter zu ihrer körperlich-seelischen Verfasstheit.

Wie sich das pathologische Gesellschaftliche in die Schicksale der Individuen hinein vermittelt, zeigen die beiden für die gesamte Zivilisation des Westens vorherrschenden Krankheitsbilder „Krebs“ und „Alzheimer“. Der Krebs steht für das verselbstständigte enthemmte Wachstum von Zellen, die sich auf Kosten ihres Organismus vermehren, gleichsam nach der fatalen Logik des Parasiten, der erst stirbt, wenn er den Zusammenbruch seines Wirtes herbeigeführt hat. - Alzheimer steht für den Identitätsverlust, der mit der Auflösung des Gedächtnisses einhergeht.

In seinem Essay „Der deutsche Mensch als Symptom“ schrieb Robert Musil schon vor Jahrzehnten über den Kapitalismus als eine geschmeidige und schöpferische Form der Gewalt, dessen Basis in der Psyche der Individuen die Ich-Sucht sei: „Dieses mit den schlechten Fähigkeiten des Menschen rechnen, ist eine Spekulation a la baisse. Eine Ordnung a la baisse ist dressierte Niedrigkeit. Sie ist die Ordnung der heutigen Welt. Ich lasse dich gewinnen, damit ich mehr gewinne, oder ich lasse dich mehr gewinnen, damit ich überhaupt etwas gewinne, diese List eines überlegenen Parasiten (sic!) ist die Seele der anständigsten Geschäfte, welche abgeschlossen werden.“

Es zählt zu den Hypotheken seiner faschistischen Vergangenheit, dass in Deutschland eine Diskussion über Gesellschaft in biologischen Metaphern lange nach 45 tabu war - wegen deren exzessivem Missbrauch, für einen pseudowissen- schaftlichen Rassismus der Nazis gleichermaßen wie für den lebensphilosophisch getränkten Kulturpessimismus des mehrheitlich reaktionären Bürgertums. Gleichwohl konnte 1986 ein Buch mit dem erstaunlichen Titel „Ist Macht heilbar?“ erscheinen; sein Verfasser ist der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer. Sein Kollege Horst-Eberhard Richter sagte in einer Rede beim attac-Kongress 2001: „ (die Verbündeten der USA sollten sich) ... von der Krankheit der gemeinsamen Megalomanie ... kurieren, die an der gewaltträchtigen Unordnung der Welt die Hauptschuld trägt... Denn die Krankheit ist chronisch, und ihre Viren verfügen inzwischen über erhebliche Resistenz ...“ Ein anderer bekannter Therapeut mit gesellschaftskritischem Anspruch, Dieter Duhm, spricht gar davon, dass das Heile und das Heilige zusammen gehören. Auch wer ihm in seiner spirituellen Weltsicht nicht gasnz so weit folgen möchte (die Erde sei ein einheitlicher Organismus mit einheitlichem Bewusstsein), wird sich doch folgenden Einsichten schwerlich verschließen können:

„Wenn das Netzwerk des Lebens gestört ist durch Gewalt und Angst, so erkrankt der gesamte Lebenskörper. Die Erkrankung der Natur und die innere Erkrankung des Menschen sind zwei Seiten derselben durch Gewalt und Angst erzeugten Gesamterkrankung.“ (in Die heilige Matrix, 2001)
Ervin Laszlo, einer der Gründerväter des Club of Rome, benennt in „Die inneren Grenzen der Menschheit“ neben den kulturellen und politischen Grenzen, die einer ökologischen Wende entgegenstehen, zuerst die psychologischen. Von vielen unbemerkt seien die individualistischen und materiellen Wertorientierungen der Moderne, der Modernismus, veraltet. Die mächtigen Fixierungen darauf stehen Grundeinsichten im Wege: dass nur der in der globalisierten Welt überlebt, der symbiotisch mit seinen Nachbarn und seiner Umwelt zu leben versteht.

Blockaden der Selbsterkenntnis

Der tiefenpsychologische Grund für die Schwierigkeit, längst irrationale Herrschaftsverhältnisse als solche zu erkennen und damit ein starkes Motiv zu haben, dagegen anzugehen, liegt in zahlreichen, oft unbewußten Ängsten. Die seit dem Wirksamwerden des „totalen Ideologieverdachts“ metaphysisch unbehausten Menschen versuchen sie zu ersticken im gierigen Ergreifen all dessen, was ihnen der Produktionsapparat bietet (und geben den Ängsten damit ungewollt stets neu Nahrung).

Es handelt sich hier um das Paradox einer quasi „maßlosen Bescheidenheit“ des „Wir wollen alles (... was wir bekommen können)!“. Kein Bedürfnis, was nicht schon warenförmig vermittelt wäre, kommt noch als Objekt der Begierde, als Inhalt von Träumen vor. Das utopische Potenzial menschlichen Wunschdenkens als anarchischer Gegenwelt zum „Reich der Notwendigkeit“ scheint der Hermetik einer total verwalteten und vermarkteten Welt zum Opfer gefallen. Am Ende eines zeitgenössischen Romans heißt es: „Das (Himmels-) Gewölbe ist dicht. Die bildnerischen Darstellungen von Menschen, die daraus den Kopf herausstrecken, liegen lange zurück. Wer Geld hat, kommt zwar noch überall hin, aber nicht mehr raus. Und auch das Verlangen rauszukommen, ist beigelegt.“ (H.-P. Piwitt, Ein unversöhnlich sanftes Ende, 1998.)

Konsum- und Besitzgier sind längst nicht mehr nur die typischen Neurosen herrschender Eliten, sondern gehören inzwischen zur normalen Innenausstattung breiter Massen, am deutlichsten ablesbar an der Mentalität der Jungen. Seit dem Fordismus ist die „Anspruchs“-Mentalität zentrale Funktionsbedingung des Kapitalismus. Günther Anders hat diesen Konsumzwang einmal mit der makabren Verkehrung der Bitte des Vaterunser bezeichnet: „Unseren täglichen Hunger gib uns heute!“

In der Einleitung zu seiner „Negativen Dialektik“ verweist Adorno auf den strukturellen Wachstumszwang der bürgerlichen Gesellschaft: „Auch diese muss, um sich selbst zu erhalten, sich gleichzubleiben (...) immerwährend sich expandieren, weitergehen, die Grenzen immer weiter hinausrücken, keine respektieren, sich nicht gleich bleiben.“

Vor allem dadurch, dass die Massen ständig hungrig sind nach den Waren, die sie selbst in entfremdeten Verhältnissen produzieren oder verwalten, herrschen die Eliten über die von ihnen Verwalteten; unmittelbare Gewaltherrschaft ist in der industriegesellschaftlichen Moderne die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Der Faschismus bleibt also bloß Notstandsvariante der Herrschenden, die präventive Konterrevolution oder die Keule, die hervorgeholt wird, wenn Sozialtechnologien der Manipulation (der ablenkenden Mobilisierung wie der Ruhigstellung) nicht mehr greifen. Solange sich die Massen selbst konditionieren (beispielhaft dafür sei das öffentliche massenmediale Mobbing erwähnt in den ‚Big-Brother- oder Dschungelcamp-Sendungen‘, zynisch ‚nominieren‘ genannt), wird die Keule ungenutzt bleiben.

Die spätindustrialistische Zivilisation (oder die ‚verwaltete Welt‘ nach Adorno) ist nun längst jenseits jener Epoche angelangt, in denen bürgerliche Freiheiten einst unter hohen Opfern gegen staatliche Willkür erkämpft, als unverhandelbar und unveräußerlich geschätzt wurden. Dieses Bewusstsein ist mit dem Verblassen der Erinerung und dem Wegsterben der Zeitzeugen aus der staatsterroristischen Phase Deutschlands obsolet geworden. Nur noch wenige Unzeitgemäße widersprechen dem Argument der Spießer, sie hätten nichts zu verbergen gegenüber der Staatsgewalt, die Einschränkung und Rücknahme ziviler Schutzrechte beträfe ja ohnehin nur die Außenseiter (Kriminelle, Terroristen), deren bösem Treiben natürlich kein Schutz zustünde, gemäß der schlichten Phrase: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!“

Weil die permanente Kapitalvermehrung unter sozialstaatlicher Regie ins Stocken geriet, plädieren die vom neoliberalen Zeitgeist besessenen Eliten unermüdlich für den entfesselten Markt. Dieser erweist sich nun vollends als Auslieferung an einen blinden Prozess, in dem die instrumentelle Vernunft, der Zweckrationalismus der Markt-Subjekte die Irrationalität des Ganzen in der Verkehrung von Zweck und Mittel nur umso stärker hervortreibt.

Am Ende dieses entfesselten Verwertungswahns stünde die kapitalistische Gesellschaft wie einst der legendäre König Midas angesichts riesiger Goldberge vor dem Hungertod. In den Peripherien des Weltsystems, in den Regionen, die es nicht einmal mehr auszubeuten lohnt, wie z. B. fast das gesamte subsaharische Afrika (außer Südafrika und dem goldträchtigen Kongogebiet), ist dies bereits heute – allerdings in ganz anderer Weise, nämlich wegen Marginalisierung bzw. fehlendem Interesse des Metropolenkapitals - der Fall. Dieser bei marxistischen „Zusammenbruchstheoretikern“ zentrale Apekt wird in der liberal gestimmten Publizistik vollkommen ausgeblendet. Im Vergleich mit dem Leiden dieser Menschen genießen Flüge von Raumsonden zum Mars oder Nachrichten über eine vom Aussterben bedrohte Tierart weit höhere Aufmerksamkeit. Nach dem Verlust des kollektiven Gedächtnisses an die Zerstörung, den Terror und den Hunger der Kriegs- und Nachkriegszeit, mit dem Gefühl, nach manchen Irrungen und Wirrungen nun doch auf der Siegerseite der Weltgeschichte angekommen zu sein, erscheinen diese Verlierer des globalen Zivilisationsprozesses irgendwie nicht mehr real genug, um bei den Zeitgenossen (Kinder und Enkel von Nazis und Terror-Überlebenden) noch viel Empathie auslösen zu können.


Der ewige Kampf ums Dasein

Nun gibt es ja in Hinsicht auf die Rolle der Sozialdemokratie - einst angetreten als Träger einer gesellschaftlichen Alternative – die längst historisch gewordene Metapher vom „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“; ein fernes Echo darauf klingt an in der gängigen Globalisierungskritik vom „entfesselten Kapitalismus“ ; Ex-Kanzler Schmidt sprach gar vom "Raubtier-Kapitalismus“, was eindeutig negativ besetzt ist gegenüber der vor Jahren noch bewundernden Rede von den südostasiatischen „Tiger-Staaten“. Der vormalige Arzt scheint an der ihm nun zugewachsenen (oder vielleicht vom elder statesman nur herbeiphantasierten?) Rolle des Dompteurs schier zu verzweifeln. Offensichtlich ist die Gesundung des Patienten einfach zu gut verlaufen, sodass dieser nun dreist auf alle wohlmeinenden Rezepturen und ärztliche Ermahnungen pfeift.

Radikale wie gemäßigte Verfechter des kapitalistischen Systems nehmen einen naturwüchsigen Lebens- und Kampfwillen als unvermeidlich hin. Noch immer sind sie bereit, diesem die höheren Weihen des Fortschritts- und Wohlstandsmotors zu verleihen.

Dabei ist es für den unbefangenen Beobachter (und eine solche Position ist wohl das Einzige, was die Rede von der „offenen Gesellschaft“ nicht ganz zur Lüge werden ließe) offenbar, dass die Biotechnologien in ihrem Drang, Menschen als Rohstoff für medizinische Reparaturen und Optimierungen freizugeben (etwa das Begehren, über embryonale Stammzellen als Forschungsobjekt uneingeschränkt zu verfügen), nur noch einen „Fortschritt hin zum Abgrund“ darstellen.

Kaum auszumachen ist, worin der größere Schrecken fürs Humane liegt: Dass Menschenleben industriell, fabrikmäßig selektiert und vernichtet wie im Genozid des faschistischen Deutschen Reichs oder fabrikmäßig selektiert, optimiert und hergestellt werden wie in den Labors der smarten Dr. Frankensteins von morgen.

Eine Spekulation sei hier gestattet: Wahrscheinlich gehört es auch zu den evolutionär verankerten Schutzmechanismen, dass nicht nur das Unterschwellige folgenlos unsere Wahrnehmungsorgane passiert, sondern auch das Überschwellige: Der Horror angesichts des Riesen-Arsenals der „erfinderischen Zwerge“ (Bertolt Brechts „Galileo“) der Biotechnologie (Wissen, gar Erkennen, ist längst nicht mehr das Kriterium für jene Natur-Machenschaftler), das Humane unwiederbringlich durch Umwertung zu entwerten, scheint für durchschnittliche Gemüter wohl gar zu unerträglich, für durchschnittliche Geister gar zu unbegreiflich. Nur Wenige halten dem Blick in den Abgrund stand, ohne sogleich vom Schwindel ergriffen zu werden.

Bekommt also die Rede einiger Verhaltensforscher Recht, vom Menschen als einem evolutionären Seitenzweig eines Stammes von Raubaffen, eines Tastens der Natur im Raum der Möglichkeiten, eines trials, der sich schließlich als error erweise?

Die Natur blickt noch stets so zurück, wie wir sie anschauen:

So war es kein Zufall, dass Charles Darwin in ihr just den erbarmungslosen Konkurrenzkampf als leitendes Prinzip der Evolution wahrnahm, der für das viktorianische England des Hochkapitalismus so bestimmend war – er, der in seinen eigenen Leben nie zum Kampf gezwungen war; und dass so viele Natur- und Geisteswissenschaftler ihm bereitwillig darin folgten.

Befunde empirischer Naturforschung heute lassen den Darwinismus (dessen prominentester Vertreter gegenwärtig Richard Dawkins ist) als den anderen großen Mythos neben der biblischen Schöpfungsgeschichte erscheinen: „Er hat sozialneurotische Unarten des Menschen – Egoismus, Aggressivität, Rücksichtslosigkeit, Geilheit, ... möglichst viele Nachkommen und tote Feinde zu hinterlassen – als ... Grundprinzipien der Evolution dargestellt. (...) Bei genauer Betrachtung findet man ... nur zwei Arten von Lebewesen ..., die sich durch und durch ‚darwinistisch‘ verhalten: Das eine ist der Mensch, das andere die Krebszelle. Beide vermehren sich völlig hemmungslos und ohne Rücksicht auf das größere Ganze, von dem sie ein Teil sind.“ (Reinhard Eichelbeck, Das Darwin-Komplott, 1999.) Insofern könnten wir uns glücklich schätzen, hätten wir es nur mit einem Raubtier-Kapitalismus zu tun (s. meine Ausführungen am Kapitel-Anfang), denn auch das größte Raubtier ist einmal satt.

Gerade in neueren Theorien – exemplarisch dafür: Rupert Sheldrakes morphogenetische Felder und James Lovelocks Gaia-Hypothese - werden die Prinzipien der Kooperation, der Koevolution als die Hauptantriebskräfte der Evolution erkannt.





Verräterische Sprachmode

Die Karriere eines der zähesten Modewörter, nämlich „fit“, zeigt eine eigentümliche Verkehrung der Prozesse von Identitätsbildung bei heutigen Jugendlichen. Das Wort – längst als universales Gütesiegel nach Art der älteren ‚klasse‘, ‚prima‘ etabliert - meint im Darwin‘schen Sinn etwa: „angepasst an die jeweiligen Umweltbedingungen und damit besonders überlebenstüchtig“. ‚Angepasst‘ jedoch war in den Siebzigern eines der Haupt-Schimpfwörter der auf Abgrenzung und Rebellion erpichten Jungen.

Nun ist die heutige Umwelt der so anpassungswilligen ‚Generation Golf‘ (nach Florian Illies‘ Buchtitel) aber nicht mehr die urwüchsige der kleinen Säugetiere Darwins, die ihren evolutionären Vorteil so gut gegen die Riesenreptilien ausspielen konnten, sondern es ist eine hochartifizielle; sie presst in ihrem gigantischen Ressorcenhunger einer Naturbasis derart viel ab, dass deren Tragfähigkeit für menschliche Zivilisation überhaupt zusehends prekär wird. Die Beschwörung der Nachhaltigkeit auf allen Umweltgipfeln gleicht daher einem Pfeifen im dunklen Wald.

Unterm kräftezehrenden Kampf ums ‚Überleben‘ im metropolitanen Dschungel gerät dabei völlig aus dem Blick, dass unter dem Pflaster ja tatsächlich der Strand liegt. Aber auch der ist nun zusehends verschmutzt. Beherzte Sprünge in vorgeblich nicht-entfremdete Lebenswelten sind für die westliche Zivilisation mehr denn je Utopie, und müssen dies wohl vorerst bleiben. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, haben Experimente alternativen, ökologischen Lebens einen hohen Stellenwert für den Selbstverständigungs-Diskurs heutiger Gesellschaften.

Diagnose

Die an den herrschenden Eliten wie an den von ihnen verwalteten Massen auffallende gestörte Selbstwahrnehmung gemahnt an das Suchtverhalten von Individuen: Nicht mehr zu leugnen sind für das eigene Bewusstsein die fatalen Folgen lange praktizierter Gewohnheiten, gleichwohl - der Wille bleibt von der Einsicht unberührt, die Umwelt-Rhetorik gebiert so zahllose, zahnlose wie folgenlose Konjunktive, Appelle ans individuelle Gewissen verhallen in den Hohlräumen der Medien. Wer dennoch sich angesprochen fühlt und irgend verantwortlich handeln will, verfällt allzu leicht dem milden Spott eines zynisch imprägnierten Publikums, das noch den eigenen Untergang als mediales Spektakel goutiert (Christoph Dieckmann hat kürzlich die Empathieunfähigkeit und Coolness der Generation von Illies und anderen als unser zeitgenössisches Rokoko, also als die Dekadenzphase unseres industrialistischen Barock bezeichnet – nun warten wir auf den ‚Sturm und Drang‘ .)

Wohl produzieren Widersprüche noch immer Widersprechende, aber zum Erreichen der ‚kritischen Masse‘ (im quasi-physikalischen Sinne!) erweisen sich die Kräfte der gegen die Kolonisierung von Lebenswelten Kämpfenden noch als zu schwach, um die ungeheure Wucht der Megamaschine wenigstens abzubremsen – bisher jedenfalls.

Denn wahrhaft krank ist der Körper, der nicht einmal mehr mit Fieber auf eine Störung seiner Homöostase zu reagieren vermag. Das Fieber nämlich, die gestiegene Körpertemperatur aufgrund mobilisierter Abwehrkräfte, ist nicht nur Symptom der Krankheit, sondern schon der erste Schritt zu deren Heilung! In diesem Sinne scheint die Lähmung des Gesellschaftskörpers, genauer: seiner Nervenzellen, inzwischen einer heilsamen Unruhe gewichen.
Sie manifestierte sich unter anderem in den zahlreicher werdenden Demonstrationen zu den Gipfeltreffen seit Seattle 1999.

Insofern waren die aus heutiger Sicht täppischen Versuche (studentische Kommunen), das bürgerlich deformierte Subjekt zu revolutionieren, durchaus Heilungs-Versuche, jedoch nach Art des Doktor Eisenbart. Es war noch stets die vornehmste Rolle von Eliten, die am weitesten vorgeschobenen Fühler des Gesellschaftsorganismus beim „Tasten im Raum des Möglichen“ zu sein (diese Metapher verdanke ich Peter Kafka). Dies gilt im Guten wie im Schlechten: gleichermaßen für die schwarzen Utopien wie den faschistischen Rassewahn wie für die Weltstaat-Utopien kosmopolitisch gesinnter Pazifisten.

Noch einmal: Heilung statt Heil

„Le coeur a sa raison que le raison ne connait.“ (Pascal, Pensees)

Das gehört in der Tat zu den bitteren Lektionen des verflossenen „Jahrhunderts der Extreme“ (so der Titel des Spätwerks von Eric Hobsbawm): Nicht die Heilsgewissheit, vor einer nächsthöheren Stufe menschlicher Zivilisation zu stehen (und „die Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen“, so Marx) ist es, die alle wachen Zeitgenossen zur Intervention drängt, sondern die gebieterische Notwendigkeit der Heilung kranker, weil extrem entfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse. Das fordert von uns eine Ethik der Verantwortung, das fordert das wohlverstandene Eigeninteresse der leidenden Individuen selbst. Dieser Imperativ richtet sich an alle, die sich verpflichtet sehen dem immer noch uneingelösten Versprechen der Aufklärung, das humane Potenzial zu befreien, die Menschen aus der babylonischen Gefangenschaft ihrer Entfremdung zu entlassen.

Kein Heilsplan, keine wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten bieten als Blaupause hierzu sich an, kein wohlfeiler Trost, nur die eigensinnige Pascalsche Logik des Herzens oder die paradoxen Zuversicht von Luthers Apfelbäumchen-Pflanzer.


Schlussbemerkung:

Außer den hier genannten Autoren verdanke ich den folgenden Denkern grundlegende Einsichten in Anthropologie und Gesellschaft:
den Psychoanalytikern Sigmund Freud, Erich Fromm, Arno Grün, Wilhelm Reich, dem Philosophen Robert Spaemann, den Kulturhistorikern Egon Friedell und Lewis Mumford und dem Wissenschaftsjournalisten Hoimar v. Ditfurth.


© Björn Scherer-Mohr


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