Bruno de Bary
1. Gespaltener Fortschritt

“Wer jetzt nicht dabei ist, hat keine Chance mehr, denn im Internet-Zeitalter fressen nicht mehr die Großen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen.” (Tim Cole)

Angesichts des in unserer Zivilisation allgegenwärtig gewordenen Beschleunigungssyndroms springt ein Missverhältnis geradezu ins Auge - das zwischen technischem und sozialem Fortschritt. Die Menschen vor hundert Jahren erlebten “Fortschritt” noch als eine mächtige gesamtgesellschaftliche Bewegung, die sie in nahezu allen Lebensbereichen erkennen und selbst erfahren konnten.

Überfliegt man die Literatur der damals modernen politischen Strömungen, also des Liberalismus, des Sozialismus (1), wird so etwas wie eine innerweltliche Heilserwartung spürbar; Darwinismus und Hegelianismus waren philosophischer Ausdruck dieser Mentalität, unter Gelehrten und der breiten Bevölkerung. So unterschiedliche Denker wie H. G. Wells und Friedrich Nietzsche sahen den künftigen Sieg von Massendemokratie und Sozialismus über die Klassengesellschaft als unaufhaltsam, der erste hoffnungsvoll, der zweite resigniert.

Das Lebensgefühl der allermeisten Zeitgenossen der Jahrhundertwende war offenbar vom Morgenrot der Fortschritts-Verheißungen erleuchtet – die Zeichen standen auf Aufbruch, nicht Rückzug (2).

Seit dieser Zeit aber hat das Innovationstempo neuer Verfahren und Produkte in einem solchen Maße zugenommen, dass technischer Fortschritt von den Zeitgenossen als etwas gleichsam Eigendynamisches erlebt wird. Die Folge: immer mehr Menschen sehen sich überfordert, als soziale Wesen. Das zoon politicon Mensch ist auf kulturelle Tradition als notwendigen Instinktersatz als Lebensorientierung schon seit jeher angewiesen. - “Es hat Zeiten gegeben, wo der einzelne Mensch viel ungeduldiger war als die Gesellschaft, in der er lebte. Jetzt leben wir in einer unglaublich rastlosen und ungeduldigen Gesellschaft, die den einzelnen überbeansprucht.” (3)

2. Desillusionierung

Seit der ‘Urkatastrophe’ des Ersten Weltkriegs jedoch war dieser Wärme-Strom des Fortschrittsoptimismus nahezu versiegt und einem Bewusstsein von Krise gewichen, das sich - je nach geistiger Orientierung - in konservativem Kulturpessimismus (4) oder in marxistisch-psychoanalytisch inspirierter Zivilisationskritik manifestierte (5). Die Protagonisten dieses Krisenbewusstseins waren bestrebt, dem unhaltbaren gegenwärtigen Zustand entweder in einer Regression auf die vormoderne heile Welt oder aber in die Antizipation des noch uneingelösten humanistischen Versprechens der Moderne zu entkommen.

Zu den Zweifeln an Unumkehrbarkeit und Nachhaltigkeit des zivilisatorischen Prozesses - genährt durch die barbarischen Menschen-Materialschlachten des Ersten Weltkriegs - gesellten sich Zweifel am humanen Potenzial technischer Innovationen überhaupt. Die Ernüchterung angesichts der Erfindungen des Rundfunks (in totalitären Staaten Instrument der Massenlenkung und Anti-Aufklärung) und der Atomspaltung sollten die seit dem Untergang der Belle Epoque herrschende pessimistische Grundströmung unter den Intellektuellen verstärken; der Existenzial- ismus eines Sartre oder Heidegger ist nur eine jeweils ‘linke’ oder ‘rechte’ Version im Kern resignativer Antworten auf die Krise der Moderne, in seiner Abkehr von der Kategorie des Gesellschaftlichen.

Schon 1930 hatte Freud in seinem “Unbehagen in der Kultur” formuliert: “Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, sie ahnen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.” Der Atombomben-Angriff der USA auf Hiro- shima und Nagasaki war kaum etwas anderes als Barbarei als Mittel, die Barbarei totalitärer Diktaturen zu ersticken, sie quasi mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Hier ging es schon nicht mehr darum, eine weitere Stufe der Fortschrittsleiter zu erklimmen, sondern vorgeblich, mit den neusten Mitteln technischer Naturbeherrschung einen sozialen und zivilisatorischen Rückschritt aufzuhalten. Dabei wurden die westlichen Erben und Musterschüler der Aufklärung dem verhassten Gegner ähnlicher, als ihnen lieb sein konnte. (6)



3. Menschliche Natur und Technik

Nun muss alle Reflexion über das Selbstverständnis von Gesellschaften sich immer auch der anthropologischen Konstanten vergewissern. „Sozialer Fortschritt“ soll hier umrissen werden mit: Veränderung der Beziehung von Menschen, genauer ‘Bürger’ einer civitas, in Richtung auf die Ziele Gerechtigkeit, Frieden und individuelle Freiheit sowie Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Über diese Ziele bestand bis vor kurzem ein breiter Konsens unter den Bevölkerungen wie den Eliten ‘westlicher’ Gesellschaften, d. h. der Trend zum Fortschritt gilt als unver-meidlich und unumkehrbar.

Da es zuallererst um Haltungen von Menschen geht, ist die Metapher vom ‘Schritt’ so sinnfällig. Die den Menschen gemäße, von Natur aus mitgegebene Weise der Fortbewegung ist nun einmal das Voranschreiten auf den Beinen, in aufrechter Haltung. Die homini sapienti waren ja zuerst Savannenläufer, nachdem sie von den Bäumen gestiegen waren. Wandernd haben sie sich den Raum erschlossen, wandernd hat sich dabei ihr Geist zusammen mit der Geschicklichkeit ihrer Hände entwickelt, wandernd haben sie so ihren Horizont erweitert - lange schon, bevor die domestizierten Pferde ihren Aktionsradius erweitern sollten. Zu den vielen Charakterisierungen unserer Spezies könnte sich neben dem homo sapiens, homo erectus, homo faber also auch der homo migrans gesellen. Auf dieser anthro- pologischen Tatsache (nämlich dass die Menschen - gerade seit ihrer Sesshaft- werdung - die Ruhelosigkeit des umherschweifenden Jägers und Sammlers zwar nicht mehr ausagieren, dafür aber umso mehr in sich tragen) beruht jede Verbes- serung, jede Höherentwicklung im Mentalen, Psychischen. Dass all diese Veränderungen, Entfaltungen und Ent-Wicklungen (wie ‘Evolution’ wohl zu übersetzen ist) im Schritt-Tempo vor sich gingen - in Ausnahmefällen wohl auch in Sprüngen - ist die Bedingung, unter der sie dauerhaft sozial integrierbar waren und damit als Kulturgewinn der Nachwelt von dauerndem Nutzen sein konnten.

Jede technisch-maschinell vermittelte Beschleunigung, jedes Fort-Rasen oder Fort-Fliegen ignoriert diese Grenze des Organismus Mensch. Wenn die ‘Seele fliegt’, dann sicherlich nicht im Überschall-Tempo der Concorde-Flugzeuge! Jede gewalt- same Akzeleration durch Maschinen zerreißt somit die Ganzheit von körperlicher und seelischer Bewegung. So betrügt noch jede Beschleunigung der Reise- geschwindigkeit den Reisenden um die ‘Er-Fahrung’ allmählicher Veränderung des eigenen Erlebens zugleich mit der Veränderung des durchreisten Raumes.


4. Vom Stillstand zur Regression?

An den Millionen Scheinbewegungen, die automobilisierte Egos heute vollführen, erweist sich die stillschweigende Bedingung solcherart technisch vermittelter Raum-Zeit-Überwindung: der Stillstand, das Fixieren des Körpers in einer Position. Es gehört zu den Paradoxien einer Zeit der forcierten Mobilität, des Mobilitätswahnes, dass Schäden aufgrund von Bewegungsmangel zu den hauptsächlichen Zivilisations- erkrankungen zählen.

Was geschieht nun mit Menschen, wenn sie sich immer weniger selbst bewegen (denn das, was sich bewegt, ist ja das Vehikel, keinesfalls sein Lenker und Insasse)? Was geschieht, wenn sie immer mehr fortgetragen, ja -gerissen werden? Der Mühe der eigenen Anstrengung enthoben, die Trägheitskräfte des Raumes zu überwinden, regredieren sie zunehmend auf eine kleinkindliche Position des Getragen-, des Bewegtwerdens. Umgeben mit Stimuli wie dem Autoradio und Nahrung, eingepackt in Vorrichtungen defensiver Sicherheit, durchrasen sie einen Raum, den sie immer weniger als Realität und immer mehr als Phantombild wahrnehmen. (7) Sich der Energie einer (explosiven) Maschine zu überlassen, das scheint nicht ohne bewusste oder unterschwellige Angst abzugehen - wie anders wären sonst die vielen Plüschtiere auf den Hutablagen der Automobile zu verstehen, denn als Rückversicherung im Kinderzimmer?

Die Sentenz, dass Reisen bilde, sie klingt wie ein höhnisches Echo aus einer anderen Welt hinüber, aus einer Zeit, zu der Gottfried Seume schrieb: “Es würde wohl manches besser gehen, wenn man mehr gehen würde.” Dank des technischen Fortschritts können heute Mitglieder der ‘westlichen Zivilisation’ eine Reise um den Erdball antreten und so ignorant und ressentimentbehaftet zurückkehren, wie sie die Reise angetreten haben.

Eingedenk des holistischen Leitgedankens “Wie innen, so außen” steckt die ‘westliche’ Zivilisation mental schon mindestens so lange im Problemstau wie ihre mobilitätsversessenen Mitglieder im Verkehrsstau der Ausfallstraßen und Autobahnen. Das forcierte Lächeln derer, die uns ‘Zukunft’ wie einen Konsum- artikel verkaufen wollen, vermag über die untergründig-leise Panik einer Gesell- schaft nicht hinwegzutäuschen, der in der Hitze des Gefechts und des Geschäfts die lohnenden, die zukunftsträchtigen Ziele abhanden gekommen sind.




1) insbes. des marxistisch geprägten, z.B. Engels’ Naturdialektik.
2) Natürlich hat es seit Rousseau und der Romantik immer Skepsis und Widerstand gegen den Progressismus gegeben. Auch die Strömung der zivilisationskritischen Jugendbewegung (der ‘Wandervogel’) gehört noch in diesen Zusammenhang, in ihrem Streben, “aus grauer Städte Mauern” aufzubrechen.
3) So Erwin Chargaff, Die Erforschung der Natur und die Denaturierung des Menschen in: Geist und Natur, Scherz Verlag 1989, S. 355;
Sebastian Haffner sprach in seinem Essay über den Fortschritt vom unvermeidlichen Nachhinken aller Lebensbereiche hinter dem Fortschritts-Tempo der Natur- wissenschaften. Eine Konsequenz daraus sei die Wertlosigkeit aller bisherigen geschichtlichen Erfahrung bzw. die Notwendigkeit für alle anderen Lebensbereiche, diesen Rückstand in einem raschen Lernprozess aufzuholen.
4) Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1923.
5) Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 1944; besonders bei Erich Fromm ist die eschatologische, religiös grundierte Unterströmung dieser Denkrichtung spürbar.
6) Seit 1945 ist nun dieses ins Globale geweitete Krisenbewusstsein steter Hintergrund philosophisch-politischer Reflexion geblieben; Günter Anders’ Kategorie der ‘Frist’ hat dieses endzeitliche Bewusstsein auf einen radikalen Begriff gebracht. Spätestens ab diesem geschichtlichen Moment hatte der Fortschritts-Enthusiasmus seinen letzten Rest an Unschuld verloren, spätestens ab da war jeder weitere ‘Schritt’ auch ein möglicher Schritt zum Abgrund.

Die Problematik, dass in vielen Fällen Fortschritte nicht auf einen definierbaren abschließenden Zielzustand hin statfinden, sondern in permanenter Grenzüberschreitung oder mindestens Grenzausweitung bestehen, soll an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben.

7) Oder als Kulisse für narzisstische Selbstinszenierungen, nach dem Vorbild der Konsumwerbung.


© Björn Scherer-Mohr


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