Bruno de Bary

Floskelhaft ist bei den turnusmäßigen Personalplebisziten *) hierzulande von der „Wahlstimme“ die Rede, oder es heißt wolkig, „der Wähler“ habe gesprochen.
Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen elaboriertem und restringiertem Code, also: wie komplex oder wie reduziert ein Sprechender jeweils etwas mitzuteilen vermag. Wollte man dies anhand eines Spektrums veranschaulichen, so stünden an dessen einem Rand etwa die Texte eines Thomas Mann oder Bodo Kirchhoff und am anderen befände sich der heutige Jugendjargon mit seinen Einwortsätzen und Vulgärausdrücken.

Wo aber wäre die „Wählerstimme“ zu verorten?
Nirgends, denn eigentlich ist sie stumm. Die „Wählerstimme“ (auf dem Wahlzettel, nicht die natürliche Stimme eines jeden Wahlbürgers!) könnte sich nur als standardisiertes Signal bemerkbar machen, etwa: ein Klingelton für den ersten Wahlvorschlag, zwei Töne für den nächstfolgenden usw., denn Differenzierungen, gar Kommentare sind ausdrücklich nicht vorgesehen - im Gegenteil: schriebe jemand quer über den Zettel „Alles Gangster, Volksverrräter“ oder neben die angekreuzte Liste „kleineres Übel“ oder Ähnliches, ertönte wohl ein Brummen, das Signal für eine Störung des Apparates: Dies sind die ungültigen Wahlzettel, die beim Auszählen des Plebiszits unwirksam bleiben; erfasst werden sie gleichwohl in der Statistik.
Signale der Zustimmung oder Ablehnung sind eine allgegenwärtige Natur- erscheinung, schon auf niedrigsten Stufen des organischen Lebens.
Bekanntlich haben sich in der Tierwelt, besonders bei der Familie der Säugetiere komplexe Zeichensysteme oder Sprachen entwickelt, darunter diejenige der Spezies „Homo sapiens“ als höchstentwickelte.
Bei – für Stellvertreter-Demokratien – so entscheidenden Vorgängen wie Wahlen dampft jedoch alles Gesprochene, alle elaborierte oder restringierte Rhetorik, auf diese Signale ein, es kommt gleichsam zu einer Regression auf niedrige Lebensformen.

Man täusche sich nicht, alle TV-Debatten, Talkrunden, Interviews, Wahlplattformen werden letztlich nicht an den Kriterien „richtig oder falsch“, „wahr oder unwahr“ gemessen, sondern einzig, ob sie diese Zustimmungs-Signale in ausreichender Zahl zu erzeugen vermögen – als „wirksam oder unwirksam“. Gleich dem Geld, dem man nicht mehr ansieht, aufgrund welcher Umstände und durch welche und wieviele Kanäle es geflossen ist, ist eine Wählerstimme so gut wie die andere. Es sind nicht machtgeile Populisten, die regelmäßig den angeblich mündigen Bürger zur Sau genauer: zum Stimmvieh machen, es ist schlicht die Logik einer Stellvertreter-Demokratie (einmal zutreffend als „verfasste Oligarchie“ gekennzeichnet), welche die allgemeine Sprachlosigkeit zur stillschweigenden Grundlage von Herrschaft hat.



*) Da inzwischen alle Bundestagsfraktionen samt anhängendem Parteiapparat unter „Reformen“ fast nur noch Anpassungsreformen an die Anforderungen globalisierter Kapitalverwertung verstehen, gibt es zwischen ihnen höchstens noch taktische Unterschiede; von Richtungsentscheidungen, an denen die Wähler beteiligt seien, kann nicht mehr die Rede sein, was sich im Abwärtstrend der Wahlbeteiligung spiegelt. Worauf die Wähler noch einzig Einfluss haben, das ist die Person des Regierungschefs. - Den Schafen wird suggeriert, es sei entscheidend, von welchem Scherer sie geschoren werden; vom „Schlächter“ und „Kälbern“ mal abgesehen.


© Björn Scherer-Mohr


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Beschreibung des Autors zu "Das Schweigen der Lämmer"

Kritik der bürgerlichen "Demokratie"

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