Folgende Nachricht konnte man 2013 lesen:
Laut einer Umfrage der Washington Post fanden 56 % der Befragten die damals bekanntgewordenen gigantischen Überwachungspraktiken des Geheimdienstes NSA akzeptabel, wenn damit gegen die „Terrorgefahr“ vorgegangen werde.
Dies mutet bizarr an in einem Land, in dem das traditionelle Misstrauen gegen eine starke Zentralmacht schon zu rechtsextremistischen Terroranschlägen gegen den Staat geführt hat, und in dem Teaparty-Bewegung und Ultraliberalismus große Zustimmung erfahren. Eine amerikanische Ideologie, für die der private Waffenbesitz Garant von Freiheit ist, züchtet ihren eigenen „homegrown terrorism“. Die „freien“ Bürger folgen der Regierungspropaganda!

Der Whistleblower Snowden nämlich, einst NSA-Mitarbeiter, hat die freiheitliche Verfassung verteidigt, indem er seinem Gewissen folgte, seine Rede- und Meinungsfreiheit gebrauchte und die Regierung bloßstellte. Die US-Bürger haben die Einheit der Nation verteidigt, indem sie die Kritik an ihrem Repräsentanten - damals Präsident G. W. Bush - missbilligten und den Freiheitshelden als Verräter ansahen. Er musste sich ins unfreiwillige Exil ausgerechnet nach Russland retten. Und dies war genauso im Falle von Julian Assange und Bradley (heute Chelsea) Manning. Dessen Verurteilung, nach dreijähriger Haft, darunter 9 Monate Isolationsfolter, zu 35 Jahren Gefängnis ist ein Terrorurteil, zur Abschreckung möglicher weiterer Gewissenstäter. Die Staatsräson mit Gewalt gegen die Anhänger der freiheitlichen Verfassung durchzusetzen, das nennt man Faschismus.

In der Doppelrolle des US-Präsidenten als Repräsentant der Nation und Spitze der Exekutive schimmert ein monarchisches Element durch. In der Gestalt des Königs erblickte die verfasste Nation, zuerst als Untertanen, dann als Bürger, gleichsam sich selbst in idealer Gestalt: ihre Tugenden, ihre Größe sind in einer Person verdichtet, psychoanalytisch: in einem kollektiv geteilten Ideal-Ich.

Die Personalunion von Staatsoberhaupt und oberstem Kriegsherren in den USA – von der Steinzeit bis zu den absolutistischen Herrschern der frühen Neuzeit - erinnert an die blutige Geburt der europäischen Nationen, gleichsam Eltern der amerikanischen Nation. In permanenten Kriegen mit den rivalisierenden Territorialherren wurde gleichzeitig mit dem eigenen Herrschaftsgebiet auch die Moral der Untertanen gefestigt, ihre Loyalität gegenüber Krone und Land, oder modern gesprochen: ihr Patriotismus. Typischer Ausdruck dieser Identifikation ist die englische Devise: „Right or wrong, my country!“

In Kriegszeiten hat sich die Geschlossenheit des nationalen Kollektivs gegenüber dem Feind immer neu zu bewähren. Deswegen müssen zentrale zivile Tugenden umgewertet werden. Was in Friedenszeiten zur Höchststrafe führt: die Verstümmelung und Tötung anderer Menschen, kann im Krieg zu höchstem Ruhm verhelfen (1) oder achselzuckend als „Kollateralschaden“ abgetan werden; der demokratische Streit um „right“ oder „wrong“, institutionalisiert in Parlament und Öffentlichkeit, muss einem patriotischen Burgfrieden weichen. Interne Kritiker, die ihre demokratischen Rechte ausüben, werden von Staatsbürgern unversehens zu Agenten feindlicher Mächte. Sie werden offen zum Schweigen aufgefordert, notfalls gewaltsam. - Dieser patriotische Reflex funktionierte im Ersten Weltkrieg in den liberal verfassten Nationen ebenso zuverlässig wie in den autoritären, im Vereinigten Königreich so wirksam wie im Deutschen Kaiserreich; im Kalten Krieg unter dem Senator Mc Carthy ebenso wie in der Sowjetunion unter Stalin und seinen Nachfolgern. Solches Verhalten hat tiefe, archaische Wurzeln: In Zeiten der Gefahr schließt sich die Primatenhorde noch stets hinter dem Alpha-Männchen zusammen.

Je länger der Kriegszustand andauert, desto länger bleibt demokratische und liberale Praxis suspendiert, desto mehr besteht Gefahr, dass die Ausnahme in die Regel sich verkehrt. Prominentes Beipiel in der Geschichte Europas ist die Wandlung der revolutionären französischen Republik zum napoleonischen Empire (2).

Der im Prinzip grenzenlose, weil nicht mit der Eroberung eines Territoriums und der Vernichtung eines konkreten Feindes beendbare „war on terrorism“ der amerikanischen Neo-Imperialisten (3) verheißt nichts Gutes: Im Krieg schlägt noch stets die Stunde der Exekutive – jener alten Königsmacht, jenes barbarischen Elements, das durch die liberalen und demokratischen Revolutionen und Reformen mühsam zivilisiert werden musste, aber nie überwunden wurde. Im Krieg kann sie ihr Machtpotenzial ungehindert entfalten, im Innern nicht weniger als im Äußeren.

Der zur Permanenz erhobene Ausnahmezustand, die Schaffung irrationaler Feindbilder, das Schüren starker Emotionen, die Machtkonzentration auf eine Führergestalt, die Dominanz gewaltförmigen Handelns und dessen theatralische Inszenierung bewirken eine sozialpsychologische Regression: mündige Bürger mutieren zu „Patrioten“ , de facto Untertanen, aus der pluralistischen Gesellschaft wird eine „Volksgemeinschaft“. Die Reibungslosigkeit, mit der diese Übergänge sich vollziehen, verweist auf das Brüchige der Liberalität und Pluralität, hinter deren Fassade längst eine Formierung stattgefunden hat (4).

Jener US-General, der androhte, Vietnam in die Steinzeit zurückzubomben, war mental selbst längst dort angekommen. Folgt die verfasste Öffentlichkeit, also die Mainstream-Medien dem Regime mit ihrer Konsens-Maschinerie, dann sind die Fragen nach „richtig“ und „falsch“ (in der Doppelbedeutung von legitim oder illegitim, rational oder irrational) durch solche nach Freund oder Feind, Sieg oder Niederlage ersetzt.

In der hochentwickelten Zivilisation hat die Steinzeit überdauert: als unbewußte Grundschicht in den Seelen ihrer Massen und Eliten; ihre gegenwärtige Erscheinungsform heißt „Faschismus“, dialektisch formuliert: als Umschlag der Hoch-Zivilisation in Barbarei.

„Dort könnte auch die große Nation des realexistierenden Liberalismus ankommen, wenn ihre Neo-Imperialisten, die Schattenregierung hinter der gewählten Regierung, ihre globalen Kreuzzugspläne nach und nach umsetzen (5).“ So dachte ich vor Jahren. Die Prognose scheint nicht länger in das Schattenreich des Konjunktivs gebannt, sie scheint sich zu erfüllen. Die Tendenz US-ameri- kanischer Gewaltpolitik: Rassismus, Überwachungsstaat nach innen und imperiale Interventionskriege entgegen dem internationalen Recht nach außen, wird von einigen aus der inneramerikanischen Opposition schon mit dem Wort „Faschismus“ belegt. Der Trendforscher Gerald Celente aus New York formulierte im Jahr 2012 sehr holzschnitthaft: „The merger of big corporations with big government is fascism. Fascism has come to America.“
Zum Glück ist das nicht ganz korrekt, da wichtige Elemente faschistischer Herr- schaft fehlen: gleichgeschaltete Massenmedien (obwohl schon ein breiter kapital- und regierungsaffiner Mainstream besteht), Massenmobilisierung gegen den „Feind“, Hegemonie einer Staatsideologie und Staatspartei. Da seien „die Wallstreet“ und CNN und New York Times davor. (6) Das Gegengewicht zur Exekutivgewalt, die Legislative, ist angeschlagen aber scheint noch wirksam zu sein. Obwohl Trump bei seinem Wahnsinnsprojekt der Grenzmauer im Süden sich auf das Notstandsrecht beruft und per Dekret regiert. Ein Donald Trump kann nicht am Kongress vorbeiregieren. Jüngere progressive Frauen sind jetzt auf Seiten der Demokraten auf den Plan getreten: Kamala Harris, Alexandria Ocasio Cortez und manch andere treten jetzt als Präsidentschaftskandidatinnen an.
„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ (7)



Zitate & Quellen
1) Im Lichte des Menschenrechtsuniversalismus ist dies natürlich illegitim und irrational, im Lichte der Logik der Macht ist es schlicht folgerichtig: Im Kriegsfall ist das Töten der Feinde stärkster Ausdruck staatlichen Gewaltmonopols, während das kriminelle Töten in Friedenszeiten die schwerste Verletzung desselben darstellt.
2) Dessen Parallelfall in der Antike ist bekanntlich die Metamorphose Roms von der Republik über die Bürgerkriegs-Diktaturen zum Kaiserreich eines Augustus, eines Nero, eines Diokletian. Dass das revolutionäre Feuer aber nicht ausgetreten werden konnte, zeigte die 1848er europäische Revolutionswelle und vor allem die Pariser Kommune und später die russische Februar- und Oktoberrevolution 1917, diese übrigens mit einer ähnlichen Verlaufsform wie die Große Französische Revolution.
3) Prominente Vordenker dieser Tendenz sind die Rechtsintellektuellen Robert Kagan, Asmus/ Pollack, Richard Perle, Paul Wolfowitz; in den letzten Jahren vor allem „Sicherheitsberater“ John Bolton.
4) Der ‚Kriegerstand‘ oder die ‚Kriegerkaste‘ stammt aus der jüngeren Steinzeit und den ersten städtischen Zivilisationen in Ägypten und im Zweistromland. Sie sind die Erben der altsteinzeitlichen Jäger, die von der Tier- zur organisierten Menschenjagd übergegangen waren, zur Vernichtung oder Versklavung der Feindvölker.
5) Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt der US-Kolumnist William Pfaff: Der eigentliche Kern der Irak-Kontroverse, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, April 2003. In seiner faschistischen Freund-Feind-Logik (Präsident G.W. Bush: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!) begeht das Imperium immer wieder schwere Verletzungen internationalen Rechts:
Der treue transatlantische Vasall BRD indes, sogar bevorzugtes Ziel der Ausspähung durch „Big Brother“ in der sog. NSA-Affäre, spielte den Überrumpelten und empörte sich pflichtgemäß, aber wenig überzeugend – natürlich politisch folgenlos.
6) Gerade die partielle Machtlosigkeit des vorletzten Präsidenten Barack Obama, eine vermutlich integre Persönlichkeit, bei der Einschränkung des Waffenbesitzes, bei der Kontrolle der Geheimdienste, beim Weiterbestehen des Schandflecks Guantanamo, deutet auf die ungebrochene Macht dieser „Regierung hinter den Regierungen“.
7) Friedrich Hölderlin


August 2019


© Björn Scherer-Mohr


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