Sie saßen in einer Welt aus gefühltem Stein und schauten den realen Hinrichtungen zu. Das Gelächter im Publikum war groß. Die Kreaturen auf dem Platz freuten sich fast schon überschwänglich am Leben zu sein. Ihre Zähne klapperten und der Speichel rann aus den Lefzen derer die mit dem Unfug Geschäfte machten: "ZIgarren, Bonbons, Programmhefte!" Und die Geschäftemacher rieben sich die Hände! Heute lief alles gut! Doch trotzdem hielten viele Menschen ihre Augen verschlossen, denn das war so üblich im Niemandsland.

Kaum hörbar übertönten die Stimmen der Intuition – sozusagen aus dem Hintergrund kommend – den Lärm der Szene. „Spieglein, Spieglein an der Wand“, sagten sie leise, aber eindringlich, im Chor, „wer ist die Schönste im ganzen Land?!“ Und die Stimmen aller Frauen am Platz antworteten lautlos mit einem verschlüsselt gekicherten „Ich?“ Zur Selbstbestätigung warfen sie Kusshändchen den Henkern zu und diese bedankten sich mit dem einen oder anderen rollenden Kopf.

Nur die böse Königin gab keinen Ton von sich. Ein Lakai musste ihr die Antwort geben, wenn er nicht selbst zu den Deliquenten gehören wollte. „Du bist es!“ schrie er sie an, „aber Schneewittchen, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, ist noch tausendmal schöner als du!“ Die böse Königen nickte mit hängenden Mundwinkeln. "Wer ist schon Schneewittchen?!"

Schneewittchen war nichts als eine kleine traumhafte Gärtnerin. Um ihren blühenden Himmelsgarten drehte sich die ganze Welt, wie in den guten alten Zeiten, wo man Gärten als solche noch "Gärten" nennen durfte durfte. Ja, das ganze, noch heilgebliebene, Universum drehte sich um Schneewittchens blühenden Garten.

Und der gedieh...in der Phantasie...wundervoll... denn sie hatte so sorgsame Hände wie ein Engel, Haare wie die Venus von Botticelli und ein Herz, so groß wie der Mond. Es schlug außerhalb der Zeit seinen unhörbaren Ton, der sich noch reizvoller anhörte als ihr süßer Atem, der heftig und heiß wie dieser Sommertag war.

Ab und zu betrachtete jemand, im Geist, ihre Lippen, schätze das Gewicht ihrer Hüften ab, oder er zeichnete die beinahe ideale Form ihrer Brüste nach, um von ihrem Geschlecht zu halluzinieren. Und er dachte an ihre Pobacken, die, in seiner Erinnerung, beim Gehen im Takt einer verspielten, atonalen Melodie schwänzelten.

Mit der Zeit verschlangen sich die Gedanken des imaginären Betrachters und die des imaginären Schneewittchens ineinander, denn sie suchten, in den Visionen von einer schönen Zeit, den nötigen Halt, auf der sich viel zu schnell drehenden Erde und in all dem Getriebe ihrer unfassbaren Wirren…

„Wie heißt eigentlich der Bürgermeister?“ fragte ein anonymer Verrückter, aus den Wirren heraus.. „Esel“, antwortete die böse Königin, die das gehört hatte, mechanisch, wie ein Roboter. Doch es klang so plausibel wie Einsteins Relativitätstheorie. Dagegen konnte nichts eingewendet werden. Dafür flatterten jetzt – ohne erkennbaren Anlass – geheimnisvolle Flugblätter vom Himmel. Sie waren an alle Zuschauer gerichtet.

Inhalt der Flugblätter:


Winterausbruch


Der erste Schnee,
der in euren Herzen fällt
ist so kalt -
die Gemeinschaft der Heiligen
könnte nicht kälter sein.

Eure Erklärungen sind einfach
und vielleicht gerade deshalb
so unwiderlegbar
wie der Urteilsspruch
eines Großinquisitors.

Einsam bist seid ihr, wie –,
nein, nicht wie ein Eis am Stiel,
nicht wie eine Drohne
nach Dienstschluss
und auch nicht wie nutzloses Kapital,

ihr seid einsam wie der leere Raum
zwischen zwei Sternen,
der zwar erfüllt
vom Magnetismus vibriert,
der von Feldlinien starrt…

aber außer der Anziehungskraft ist da nichts!


Der zusammenhanglos wirkende Text änderte natürlich kaum etwas an der Gesamtsituation. Die Hinrichtungen gingen munter weiter. Auch das Gelächter verstummte nicht und die Kreaturen um die Hinzurichtenden herum, ja, direkt um sie herum (!), erfreuten sich weiter an ihrem fradwürdigen Leben. Die Zähne der Verurteilten klapperten weiter, weiterhin boten sich aber insgesamt alle feil und die Türen zu den Herzen der Menschen(?), weit und breit, blieben verschlossen. Nur einige hatten sich einen Spalt breit geöffnet. Daraus lugten, gleich jenseitigen Knochenhänden, die unerfüllten Überlebenswunsch der Verlorenen hervor, der an Intensität immer mehr Bedeutung gewann. Küchendunst entwich aus den Türspalten und verbreitete sich im Land. Er verbreitete sich bis zu den armen Tieren im Wald…

Bald begannen die Wölfe zu heulen, die Füchse zu schnüren, die Hasen zu mümmeln – alle übrigen sangen im Stillen die Irrationalhymne…

…Und so drehte er sich fort – unser Planet – auf seiner Bahn, die vielleicht niemandes Bahn in niemandes Land ist.

Zuerst erschien er noch blau, am goldenen Faden seiner Umlaufbahn hängend, dann erlosch sein Glimmen in der Unendlichkeit aller Seelen: Aus den Augen, aus dem Sinn!

Und wenn sie noch nicht geboren worden sind (die ersten wirklichen Menschen), dann wird das so weitergehen, bis in den Abend aller Tage hinein, die so wertvoll sind wie alle wirklich sorgsamen Gärtnerinnen der Welt zusammengenommen, oder so wichtig, wie ein Herbstblatt im Wind…!


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Konkrete Vorahnungen"

Re: Konkrete Vorahnungen

Autor: possum   Datum: 09.04.2019 2:18 Uhr

Kommentar: Jetzt hat mein Internet den vorherigen Komment geschluckt ... Daumen hoch für dein Werk lieber Alf, liebe Grüße!

Re: Konkrete Vorahnungen

Autor: Alf Glocker   Datum: 09.04.2019 15:21 Uhr

Kommentar: Vielen Dank liebe Possum!

Liebe Grüße
Alf

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