Natürlich hatte ich die Wahl! Die Meinung meiner von mir sehr geschätzten Bekannten ist da ganz eindeutig. Ich zögere. Ja. Nein. Also, so richtig irgendwie nicht.
"Jetzt kommen Sie mir nicht mit so einer Ausrede! Natürlich hatten Sie die Wahl. Es war Ihre Entscheidung und Sie haben sie getroffen!" Ach, wenn es doch so einfach wäre.

Wenn man etwas schon sein ganzes Leben lang tun möchte (und bei mir sind das ja schon ein paar Jährchen) und nun - oder nie wieder - habe ich die Möglichkeit dazu: ist das dann wirklich eine Wahl? Natürlich gibt es Für und Wider. Großes Wider sogar, aber musste ich wirklich eine Entscheidung treffen, wenn der Ausgang schon vorher feststand?
"Sie wollen bloß Ihr Gewissen reinwaschen und die Verantwortung auf das Schicksal schieben" sagt sie dazu.
Ich zweifle an der Klarheit der Sache. Schwarz oder weiß?
Eher fifty shades of grey. Du Luder.

Nun hat diese Entscheidung Folgen. Eine davon ist, dass wir uns nur noch selten sehen werden. "Auch dazu haben Sie sich entschieden" sagt sie, ohne das wertend zu meinen. Ich widerspreche: Das ist doch nur eine Folge meiner Entscheidung,
sozusagen ein (winziges) Körnchen auf der Waagschale. Das habe ich doch nicht aktiv entschieden. Da habe ich doch keine Wahl getroffen!
Aber sie ist anderer Ansicht: Die Summe einzelner Entscheidungen (wichtig - nicht so wichtig) führt zu anderen Entscheidungen.

Puh, so langsam bin ich verwirrt. Komplizierte Sache das und ich kann der Frau nicht das Wasser reichen...

Je mehr ich gegenargumentiere und sie widerlegt, desto mehr neue Fadenenden ribbeln aus dem Teppich. Aber statt sie ordentlich zusammenzufügen, bilden sie nun einen gordischen Knoten.

Sie sagt, dass alles, was wir tun, unsere freie Entscheidung ist. Betonung auf frei.

Das beginnt schon beim Klingeln des Weckers um 5:30 Uhr. Stehe ich wirklich auf, oder bleibe ich einfach liegen? Wer würde mich denn mal, ganz im Ernst, an Letzterem hindern?
Stehen da Bodyguards bereit, mich beim leisesten Anzeichen des Zögerns aus dem Bett zu zerren? Natürlich nicht. Theoretisch könnte ich wohl liegenbleiben. Sie widerspricht sofort: Nicht theoretisch, sondern ganz praktisch. Ich könnte es einfach, entscheide aber, es nicht zu tun.
Na gut, sage ich, das sind doch aber keine freien Entscheidungen! Natürlich könnte ich weiterschlafen, aber das mache ich nur ein paar Mal, dann bin ich meinen Job los. Danach hätte ich eher das Problem, dass ich diese morgendliche Wahl gar nicht mehr habe, weil kein Wecker mehr klingeln muss.
"Aber sie können das frei entscheiden" beharrt sie.

Ich rechne vor: gut, ich stehe also auf. Und dann? Ziehe ich Rock oder Hose an? Dusche ich oder nicht? Zahnpasta mit oder ohne Fluorid? Haare hochstecken oder binden? Make-up oder nicht? Frühstück oder KaZi (Kaffee/Zigarette)? Dann ist ja alles eine Entscheidung!
Das ist doch absurd! Da raucht mir doch schon der Kopf, bevor ich überhaupt meinen ersten Kaffee hatte. Oder Tee?

Nein, ich fälle diese Entscheidungen nicht täglich neu. Ich habe mich mal für eine Vorgehensweise entschieden, und das habe ich nicht mal bewusst getan. Zählt sowas überhaupt zu "Entscheidungen" Ich glaube, DA liegt der Hase im Pfeffer.

"Sie haben sich dazu entschieden, all diese Dinge nicht jeden Tag infrage zu stellen" ist ihre Antwort. Aber zumindest beim Wecker stimmt das nicht. Ich frage mich jeden Morgen, ob ich einfach liegen bleibe. Aber ich kenne die Antwort ja schon. Was ist daran, bitte schön, eine freie Wahl?Demnächst muss ich mich abends auch noch fragen, ob ich ihn überhaupt stelle... ach, bleiben wir lieber bei einem Tag, das ist kompliziert genug.
Ja", sagt sie dazu, "gefühlt mag das so sein, aber richtig ist es nicht."

Nochmal puh, wir machen eine Gesprächspause. Ich muss denken.

Also, ich kriege das nicht richtig zusammen. Oder auseinander?

Irgendwie hat sie ja recht. Wir leben in derselben Welt.
Sie fühlt sich frei.
Ich nicht.

Aber gibt ihr das automatisch recht? Muss sie sich denn nicht auch mal Zwängen beugen? Sie antwortet, sie entscheide, wann sie es tut und wann nicht. Das klingt schön, aber mir einfach zu einfach. Und wenn sie keine Wahl hat?

"Es gibt immer eine Wahl!" - im Brustton innerer Überzeugung. (In welchem Film habe ich das schon mal gehört?)
"Ich kann entscheiden, dass es besser ist, mich dem Druck zu beugen. Aber ICH entscheide!"

Ich kann gar nicht widersprechen. Aber zustimmen irgendwie auch nicht.

Gedankenlabyrinth.

Wo ist der verdammte Ausgang?

Hat man wirklich immer eine Wahl in seinen Entscheidungen? oder nur hypothetisch?
Es wird immer komplizierter und dreht sich im Kreis....

Ich entscheide jetzt es zu vertagen, weiter darüber zu sinnieren.

Einen schönen Abend noch! (00:11 h) ...oder Morgen? Oder was ist es für dich? Du hast die Wahl....

Ich hatte die Wahl


© Verdichter


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Kommentare zu "Ich hatte die Wahl"

Re: Ich hatte die Wahl

Autor: Varia Antares   Datum: 16.05.2018 22:25 Uhr

Kommentar: Liebe Verdichter,

Du hast das richtig gut geschrieben. Gut formuliert, spannend und leicht sarkastisch. So einen Schreibstil mag ich am liebsten.

Auch sprichst Du mir aus der Seele, und zwar in allen Punkten, die Du erwähnt hast.

Danke für die Anregungen zum Nachdenken!

LG
Varia

Re: Ich hatte die Wahl

Autor: Verdichter   Datum: 16.05.2018 22:45 Uhr

Kommentar: Liebe Varia, vielen Dank!

Gruß, Verdichter

Re: Ich hatte die Wahl

Autor: Ikka   Datum: 16.05.2018 23:15 Uhr

Kommentar: Liebe Verdichter, spannend geschrieben und wie sehr du dir mit der Ausführung dieses Gedankengebäudes Mühe gegeben hast! Irgendwie hat sich bei mir auch die Idee "Schicksal" eingeschlichen ...
Gruß,
Ikka

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