99. Schritt


Manchmal verstehe ich mein eigenes Wort nicht mehr – die Stimmen sind einfach zu laut! Früher mal waren sie nur ein undeutliches Flüstern, damals, als die Hypophyse noch stimmlich dominierte. Immerhin wollte ich zu allererst auf sie hören. Das hat sich dann leider, oder ich weiß nicht was, abgeschliffen, als ich mit den Träumen der anderen Artgenossen und Genossinnen in Berührung kam. Bei dem Durcheinander von Geschrei aus den verschiedensten Ecken musste ich Prioritäten setzen und da war es wie im wirklichen Leben: die Dümmsten werden am ehesten gehört. Aber was soll‘s?! Es geht ja nur um die Wahrheit. Und wie die zu beurteilen ist, könnte ich beispielsweise den Teufel fragen…

Heute höre ich in zusammenhängenden Sätzen, was mir vor vielen Jahren, im Rauschen der Zeit, verlorenging. Ich war ganz Darsteller, auf den Brettern vorm Kopf die die Welt bedeuten. Da konnte ich mich noch wehren. Heute muss ich alles über mich ergehen lassen – die ganze Vernunft. Meine Betrachtungen erschlagen mich schier! Oft genug frage ich mich, warum ich nicht einfach wieder so leichtfertig sein kann wie in meinen besten Tagen, als ich mich schamlos dem Schicksal ausgeliefert habe. Da geht viel Freiheit verloren! Leider kann ich nunmehr nicht einfach sagen: „ich weiß nicht was ich jetzt wieder falsch gemacht habe“. Das ist ein riesiges Manko.

Mit anderen Worten: Ich weiß es! Aber das hilft mir nicht weiter. Zwar leugne ich nicht mehr fröhlich ab, Fehler zu machen, ich heuchle auch nicht vor mich hin, daß diese Fehler wichtig für meine Entwicklung sind, da ich mir nichts mehr vormachen möchte. Ja, ich gebe sogar zu: ich werde immer weiter Fehler machen, solange ich lebe – ohne Nutzen, ohne Sinn, denn sobald ich einen Fehler gemacht habe, lerne ich natürlich daraus und werde genau den gleichen nicht wiederholen. Doch das ist lächerlich! Genau dieselbe Situation, die ich gerade eben nicht gemeistert habe, wird mir nie wieder begegnen. So viel ist wenigstens sicher!

Das Leben ist jeden Tag neu! Die Situationen sind jeden Tag neu! Nur eines bleibt stets beim Alten: Ich! Ich selbst, was heißen will, meine Anlagen werden, oder würden in 100 oder sogar in 1000 Jahren immer noch sein wie am ersten Tag – wenn ich bis dahin nicht längst verrückt geworden bin. Sie beherrschen mich unveränderbar. Aus Von-Natur-aus-gewissenhaft wird nicht Aus-Übermut-leichtfertig werden und umgekehrt. Hochsensibel wird sich nicht in gefühllos verändern, nur weil ich irgendetwas gelernt haben sollte – oder auch: wer die Relativitätstheorie heute nicht vom Gefühl her klar empfunden = erspürt-begriffen hat, der wird sie bis zum Ende des Universums bestenfalls herunterleiern, niemals aber erklären, bzw. gar weiterentwickeln können. Und genau deshalb sterben wir!

In unseren Toden forscht das Fleisch, das Lebendige, nach anderen Reflexionsmöglichkeiten, um der Welt nach und nach, das Gesicht der Weisheit zu geben, egal ob sein Besitzer dann mit Steinen wirft, oder aber sämtliche Regionen des Alls befährt. Er muss nur eines können: genug ehrliche Fröhlichkeit für ein Handeln aufbringen, das er auch gefühlsmäßig nachvollziehen kann. Momentan befinden wir uns nicht auf dem Weg dorthin! Wir reden von Dingen, die wir nicht begreifen, behandeln die Welt wie Affen in Nadelstreifenanzügen, ja, es gibt sogar Anzeichen einer Verfolgung all jener, die frech aus der Art des Nichtbegreifens schlagen. Unsere Staaten sind totalitär regiert: wider alle Natur, wider jedes Gefühl und gänzlich ohne höhere Einsicht.

So kann das mit mir nicht weitergehen! Wer ist nun Herr des Augenblicks? Fehler dürfen einfach nicht mehr gemacht werden! Am allerwenigsten von mir! Da ich jedoch am Laufenden Band welche vollbringe, bin ich wohl weitestgehend überflüssig geworden. Mein Verhaltensmuster konnte ich auf keine der Umgebungen anwenden, denen ich je begegnet bin. Das ist keine Methode! Ich bin einfach kein grober Keil, so fehlerbehaftet ich auch bin. Ich bin einfach nicht absichtlich leichtsinnig. Das sieht nur so aus, weil nicht nur der Zufall gegen mich spielt, sondern auch die Psyche der Zeit, in die ich nicht passe. Und mich einfach hinstellen und mir eine Erklärung zusammenzimmern die mir „göttlich“ verkündet, ich befände mich im Recht, weil ich lebe und ich sei niemandem groß verpflichtet, außer mir selbst, das hilft mir auch nicht aufs Pferd.

Deshalb ist mir schließlich schwindlig geworden. Hier die Stimmen, die mir in aller Deutlichkeit verraten was Sache ist. Dort die Ansprüche eines Lebens an mich, welches aussieht als hätte es nicht mehr alle Tassen im Schrank. Das ist ein Karussell, in dem kein Mensch mehr die Übersicht behalten kann, sofern er weiß was das ist – ein Mensch. Da hilft es mir auch nicht, selber verrückt zu werden, um mit dem, mich umgebenden Wahnsinn fertig zu werden. Als Kind hatte ich noch eine praktikable Methode: ich glaubte einfach daran, daß die Erwachsenen schlichtweg alles wüssten und ich nur noch nicht klug genug wäre zu begreifen was sie tun. Mit der Zeit würde sich alles ändern, dachte ich, ich würde wachsen und „vernünftig“ werden und endlich nachvollziehen können was sie mir andauernd zu erklären versuchen: daß ich nämlich alles falsch mache, weil ich eben noch viel zu grün hinter den Ohren sei.

Heute fürchte ich nicht nur, nein, ich wüsste sogar ohne innere Stimmen, daß sie nicht wissen was sie tun! Nicht, daß ich selbst erwachsen und daher klug geworden wäre, sonst wäre mir ja ein Trick eingefallen für mich und eine Eventualbrut zu sorgen, ohne mir Sorgen zu machen, nein, es ist viel schlimmer! Ich habe gelernt einfach zu glauben! Haha! Das darf jetzt aber nicht falsch verstanden werden. Ich glaube nicht an eine Religionsmasche. Ich habe nichts aus meiner Misere gelernt, sonst hätte ich mich längst mit irgendwas arrangiert. Nein, ich musste „es“ einfach tun, was man wirklich tunlichst vermeiden sollte, dieses unbeeinflusste freie Denken, nur dem eigenen Gewissen verpflichtet. Das ist die Vermessenheit pur! Wie kam ich nur drauf?! Ich hatte viel zu viele Fragen und viel zu schlechte Noten. Das konnte nicht gutgehen. Und den Ratschlag gebildeter Menschen, die mir übereinstimmend, in sämtlichen Sprachen der Welt verkündeten „Denken ist Glückssache und bei dir sowieso fehl am Platz“, habe ich auch nicht respektiert. Nun stehe ich kurz davor wahnsinnig zu werden und weiß weder ein noch aus. Ist das nicht erfrischend?!

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor: axel c. englert   Datum: 08.04.2015 14:46 Uhr

Kommentar: Der Text – nicht leicht – erfüllt voll sein Soll!
Dieses Bild ist (wieder) Wunder – voll: Toll!

LG Axel

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor:   Datum: 08.04.2015 18:01 Uhr

Kommentar: Institutionen wie Scientology leben davon, anderen diese "Verunsicherung" ihres
Selbst in festgefügte Bahnen zu lenken. Was die anderen noch mit sozialem Druck,
Morddrohungen und gehirnwäschenden Wiederholungen erreichen, sowie gesellschaftlichen
Vorteilen, wird dort industriell bereinigt.

Sicher zu sein bzw. sicher zu fühlen. Eines der Hauptnetze der Menschenfischer.

Und... wer erwachsen wurde, hat aufgehört zu wachsen.
Ich weiß das dies dich nicht tröstet... aber Fantasie ist mehr Wert als aller mangelnde
Vorstellungskraft.
Und du wirst nicht lange in diesem Kokon verweilen.

Ich habe niemals versucht perfekt zu werden.
Perfektion ist eine Abscheulichkeit. Ein Konstrukt, entworfen von unperfekten
Menschen. Perfektion wäre das Ende der Fahnenstange. Keine Entwicklung.
Kein mögliches Leben. Nicht mals ein seelisches...

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor: Alf Glocker   Datum: 09.04.2015 7:05 Uhr

Kommentar: Vielen Dank an Euch!

LG Alf

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