Jetzt stehe ich hier an der Bushaltestelle in Richtung blauem Himmel, Sonnenschein und Regenbogen. Hinter mir noch das triste, heruntergekommene, verwaiste Dorf, aus dem ich herkam. An dem Platz an dem ich stehe ist alles so still. Es ist weder bedrückend noch angenehm. Um mich herum alles leer und doch lässt der Wind alles tanzen – als wäre das Land seine Marionette. Ich weiß nicht wie ich fühlen soll, ist es gut meine Heimat zu verlassen? Meine Heimat – die Unterschicht. Ist es erstrebenswert sich seiner Vergangenheit zu entledigen, um die Zukunft woanders aufblühen zu lassen? Ich schaue, an der Bushaltestelle stehend, mit etwas Abstand auf mein Dorf. Warum folgen mir die Leute nicht? Gibt es etwas, was sie dort hält, dass mich nicht vermochte festzuhalten? Ich bin verwirrt. Ich kenne ihr Leid. Habe jedes schlechte Gefühl eines Armen, jedes Problem eines Hilflosen schon durchlebt. Doch habe ich es nun tatsächlich geschafft, aus diesem Dorf herauszukommen. Jahre hat es gebraucht. Ich bin einen Marathon in Fußfesseln gelaufen, um letztlich da zu stehen, wo andere hineingeboren werden, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.
»Uns kleinen Leuten hilft doch eh keiner.« Eine Parole, die im Dorf an einer Schulmauer steht. Doch warum helfen sie sich nicht selber? Warum klagen sie über ihre Armut, ihren schlechten Job, falls sie überhaupt einen haben. Warum schimpfen sie über ihre niedrige Rente, sie haben sie doch erarbeitet. So frage ich mich, wie weit man für sich selber verantwortlich ist. Jeder geistig und körperlich Fähige hat in unserer Zeit, in unserem Land die Möglichkeit sich zu bilden. Bildung ist die schärfste Waffe, um die finanzielle und die geistige Armut zu bekämpfen, auch wenn dieser Kampf Jahrzehnte dauern kann. Am Anfang des Prozesses ist man auf die Bildung anderer angewiesen, die einem erklären – also bilden. Der Prozess der Bildung beinhaltet also auf der ersten Ebene ein Gebildet-Werden. Erst auf der nächsten Ebene, wenn man gebildet wurde, kann man Bildungen von anderen miteinander vergleichen. Man kann sie nun bewerten und einordnen. Ein Gebildeter ist man dann, wenn man eigene Gedanken mit denen der Gebildeten vergleicht und selber nun andere bildet. Es ist ein ewig langer Prozess. Ist es deshalb vielleicht so, dass sie lieber Parolieren – weil es zu anstrengend und aufwändig ist? Dann doch lieber hierbleiben und aus der Sicherheit des Gewohnten und des Vertrauten über das schimpfen was man ist, damit man nicht einsehen muss, dass das, was man ist, nicht der Boshaftigkeit der anderen, sondern der eigenen Untätigkeit geschuldet ist. So vegetieren sie, weil sie nicht denken, denn das Denken ist das Werkzeug des Bildens und das Bilden ist letztlich der Unterschied zwischen leben und vegetieren. Sowie auch ein Stehenbleiben ein Vorangehen ist, eben weil die Zeit unaufhaltsam voranschreitet. Es ist aber Eines in die falsche Richtung und es wird nicht dadurch besser, dass man immer weiter läuft, indem man Steht. So stumpft der Geist irgendwann derart ab, dass man nicht mehr leben, sondern nur noch vegetieren will, denn es scheint nicht anstrengend zu sein. Das Leben ist anstrengend, so heißt also jede Anstrengung zu leben. Wer vegetiert, lebt nicht. Und wer vegetiert, dem geht es so schlecht, um zu schimpfen, aber so gut, um nichts dagegen zu tun. Denn im Gegensatz zu einem Großteil der Menschheit kämpfen wir im schlimmsten Fall um eine Existenz, wohingegen andere um ihr Leben kämpfen.
Was daran jedoch verwirrt ist die sozial-ethische und religiöse Verpflichtung, armen und mittellosen Menschen zu helfen. Denn jede Gesellschaft besteht aus Armen, um die sich der andere Teil kümmern muss, denn nur dadurch, dass es ihnen schlechter geht, geht es uns besser. Eine Gesellschaft muss Brücken und Wege bauen, die die Menschen aus diesem Dorf führen. Man darf nicht die Augen verschließen, man darf auch nicht die Schuld bei ihnen suchen – was kann ein Kind für die Armut seiner Eltern? Was kann ein Waisenkind für seine Armut in den ersten Jahren seines Erwachsenenlebens und dessen Folgeproblemen, welche sich zum Teil noch in die nächsten Jahre ziehen können? Es ist nicht angemessen, ihn dafür in die Verantwortung zu nehmen. Doch möchte ich nicht darauf abzielen, die wohlhabende Mittelschicht und die obere Mittelschicht über ihre – durchaus gegebenen – Möglichkeiten hinaus, durch staatliche Zwangsmaßnahmen zum Helfen drängen, es liegt viel mehr an ihnen und ihrem ethischen und religiösen Verantwortungsgefühl, zumindest einen Teil ihrer Mittel zur Erschaffung dieser Brücken und Wege zu nutzen. Vielmehr sollten diejenigen zur Umverteilung gebracht werden, deren Vermögen sich durch sich selbst vermehrt und die Vermehrung im Verhältnis zum Lebensunterhalt immer noch ein positives Netto aufzeigt. Denn die Hortung des Vermögens ist der Tod einer Gesellschaft. So hat in dieser Hinsicht der Kapitalismus auch sein Gutes, weil das Vermögen immer wieder durch die Gesellschaft läuft und alle profitieren - wenn aber zugleich anzumerken ist, dass durch optimierende Kapitalisierung bei den wenigen exzessiven Gewinnern dieses Systems gerade dadurch die Weichen geschaffen werden, dass diese Hortung stattfinden kann.
Doch sollte sich jeder selber die Frage stellen, inwieweit er die Verherrlichung des Gewinnstrebens durch eigenes Handeln verinnerlicht und fördert. Denn Erfolg wird zu oft durch Vermögen definiert. Demnach wäre der letzte Prophet Gottes (gemeint ist Muhammed) nach dieser Definition wohl kaum ein Jener, sondern ein Erfolgloser – dadurch, dass er Zeit seines Lebens kaum Vermögen hatte. Dass das nicht stimmen kann, spricht wohl für sich. So gib das was du hast und nicht brauchst demjenigen, der es nicht hat und es braucht.
Nehmen wir uns aus Deutschland bzw. Europa raus und betrachten die Welt als Ganzes, kann man folgende Kriterien benutzen, um Armut abzugrenzen. Arm ist, wer es sich nicht leisten kann, täglich mindestens eine reichhaltige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Wohlhabend ist der, der es sich leisten kann, mindestens zwei Mal am Tag gesund zu essen und reich ist derjenige, der es sich leisten kann, andere dafür zu bezahlen, dass ihm die Mahlzeit zubereitet wird, weil er selber keine Lust hat, es zu tun. So sollten wir uns anhand dieser Zuordnung gesegnet fühlen, dass wir demnach im weltweiten Vergleich fast alle reich oder zumindest wohlhabend sind, auch wenn nicht vergessen werden darf, dass ein armes Kind aus unserer Gesellschaft, dessen Familie um deren Existenz kämpft, die selbe Armut spürt, wie das Kind aus einer viel ärmeren Gesellschaft, dessen Familie ums Überleben kämpft.
So stehe ich noch immer an der Bushaltestelle und überlege, wo ich hingehen soll, und wo ich hingehöre. Ob ich eine Antwort finde, die ich bisher nicht gefunden habe?

David der Krieger


© David der Krieger


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